SWR2 Wort zum Tag

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12JUN2020
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Es ist Winter. Irgendwo in Schweden liegt mitten im Wald ein tiefverschneiter Hof. Es ist bitterkalt. Nachts träumen die Tiere in den Ställen vom Sommer. Die Kühe freuen sich auf ihre Weide, die Pferde träumen davon über die Wiesen zu traben. Da schlüpft ein Wichtel zu ihnen in den Stall Tomte Tummetot ist sein Name. Er geht zu den Tieren und spricht zu ihnen. „Geduld nur Geduld, der Frühling ist nah.“

Bei uns ist der Frühling schon lange da und trotzdem geht es mir wie den Tieren in diesem Kinderbuch von Astrid Lindgren. Ich träume von einer anderen Zeit. Viele Corona-Beschränkungen sind inzwischen wieder gelockert worden. Aber trotzdem, je länger es geht, umso ungeduldiger werde ich. Ich sehne mich danach, viele alltägliche Dinge wieder unbeschwerter zu tun. Ich möchte Menschen wieder begegnen ohne ständig auf Abstandsregeln und Hygienevorschriften achten zu müssen. Das ist der Frühling, auf den ich warte.

Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern bis er kommt. Aber dass er kommt, darauf vertraue ich. Und dafür gibt es gute Gründe. In der Geschichte erinnert der Wichtel die Tiere Nacht für Nacht daran, dass der Frühling kommt. Er verspricht ihnen: Das, worauf ihr wartet, wird kommen. Das soll ihnen helfen, geduldig zu sein. Ich brauche auch immer wieder die Perspektive, dass es nicht ewig so bleiben wird. Auch wenn ich nicht genau weiß, wann es soweit sein wird.

Aber der Wichtel macht noch etwas anderes. Er weist die Tiere darauf hin, was sie haben, obwohl ihnen die Freiheit, das Licht und die Sonne des Sommers fehlen. Er sagt ihnen: Ihr steht in einem warmen Stall und habt genug zu essen. Freut euch darüber. Er will ihnen damit nicht die Sehnsucht nach dem Frühling oder dem Sommer nehmen. Aber sie sollen auch nicht vergessen, dass es ihnen trotz allem gut geht. Ich muss mir das ab und zu wieder klar machen.

Auf dem Bauernhof gibt es natürlich auch Menschen. Auch sie besucht der Wichtel bei Nacht. Keiner von ihnen hat ihn je gesehen. Die Kinder wünschen es sich sehr. Aber er kommt erst wenn sie schlafen und wenn sie am Morgen aufwachen, sehen sie nur noch seine Spuren im Schnee. Das Bild gefällt mir und ganz besonders gefällt mir auch, was im Buch noch über die Menschen steht. „In dieser Zeit geben die Menschen Acht, dass das Feuer im Herd nicht ausgeht.“

Im übertragenen Sinn nehme ich mir genau das zu Herzen. Ich werde achtgeben, dass die Beziehungen zu meinen Mitmenschen nicht erlöschen, auch wenn noch eine Weile Abstand geboten ist. Ich halte die Sehnsucht nach Nähe wach und sage mir immer wieder selbst: „Geduld nur Geduld, es kommen wieder andere Zeiten.“

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