Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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05JUN2020
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„Ich kann mich noch leiden.“ Eine Freundin sagt das zu mir, als ich sie am Telefon frage, wie es ihr so geht. Sie lebt alleine, ist mittlerweile im Ruhestand und trifft in diesen Zeiten eben kaum andere Leute.

„Ich kann mich noch leiden.“ In dem Satz wird klar, dass es gar nicht so einfach ist, sich selbst zu mögen. Die eigene schlechte Laune ertragen, Langeweile aushalten, mit mir alleine sein. Der Satz liefert Gesprächsstoff für ein langes Telefonat. Und wir spüren, wie das „Sich - selbst - leiden - können“ verknüpft ist mit Menschen, die uns annehmen, uns zuhören, uns begegnen. Wenn ich mit anderen zusammen sein kann und verstanden werde, hilft mir das, mich zu leiden und zu mögen.  Eine kleine Geschichte aus Südamerika bringt das auf den Punkt: 

„Eine Indianerin pflegte ihren Nachbarn stets ein paar Rebhuhneier oder eine Handvoll Waldbeeren zu bringen. Die Nachbarn sprachen kein Araukanisch mit Ausnahme des begrüßenden „Mai-mai", und die Indianerin konnte kein Spanisch, doch sie genoss Tee und Kuchen mit anerkennendem Lächeln. Die Nachbarskinder bestaunten die farbigen, handgewebten Umhänge, von denen sie mehrere übereinander trug. Sie wetteiferten bei dem Versuch, den?melodischen Satz zu behalten, den sie jedes Mal zum Abschied sagte. Schließlich konnten sie ihn auswendig. Ein Missionar hat ihn übersetzt: „Ich werde wiederkommen; denn ich liebe mich, wenn ich bei euch bin". 1 

Was für ein Satz! Hier geht es nicht um oberflächliches Gerede oder den Austausch von Nettigkeiten. Auch nicht um den leckeren Kuchen oder den heißen Tee. „Ich liebe mich, wenn ich bei euch bin“, meint: Ich fühle mich geborgen und zuhause bei euch. Verstanden, auch ohne Worte. Hier darf ich sein, wie ich wirklich bin. Ungeschminkt und unfrisiert. Mürrisch oder müde. Aufgewühlt oder ungeduldig. Ich muss euch und mir nichts beweisen. Denn so, wie ich bei euch ankomme, werde ich angenommen und aufgenommen. Und genau das ist der Punkt. Dort, wo ich akzeptiert und respektiert werde, kann ich mich lieben und leiden. So wie ich bin.

 

1 in Anlehnung an: Der andere Advent, Hamburg 2007

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30991
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