Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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27MAI2020
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Ja, mein grauer Haaransatz ist deutlich zu sehen. „Ich steh jetzt zum Grau“, haben auch viele meiner Freundinnen gesagt, nun ja, ob wir das durchhalten? Jedenfalls hat die friseurlose Zeit manche ins Grübeln gebracht, auf dem Kopf und im Kopf. Was braucht´s wirklich, was zählt, wie lebt es sich in diesen verrückten Zeiten…

„Also ich war ja immer verrückt“, ruft sie mir zu. Jene silbergraue Dame, die mich dieser Tage am meisten verblüfft hat. Sie ruft über das Flatterband am Seniorenstift. Eigentlich will ich meine Tante besuchen. Doch sie hat sich verspätet. Dafür ist die Unbekannte am Zaun redselig. „Ach Kindchen, was glauben Sie, wie alt ich bin“, noch ehe ich antworten kann, nun so um die 80, „ich bin 94 und würde jetzt gern Motorrad fahren. Das fehlt mir am meisten“. „Das hätte ich nun am wenigsten erwartet“, ich lache, „viele hier wären froh, wenn sie wenigstens ein paar Schritte raus dürften“.

„Ach, ich hab nie gefragt, was die anderen machen.“ Dann erzählt sie knapp ihr Leben. Textilchemikerin aus Ostberlin. 1949 eine der ersten Frauen mit Motorradführerschein, zweimal verheiratet, einmal um die halbe Welt gereist. Den Mann neun Jahre lang gepflegt. „Und hier, im Stift“, ihre hellblauen Augen blitzen, „hab ich so viel zu erzählen, meine Freundin sagt, ich bin ein Wahnsinnsweib“. Allerdings, denke ich. Und finde, selten hat ein Bibelwort so gut gepasst wie bei ihr: „Ich will euch tragen bis ins hohe Alter und bis ihr grau werdet“.

„Ich muss wieder rein, mit der Tochter skypen, ja, mit 87 bin noch ich ins Internet“, fällt sie mir in meine Gedanken. „Wie sehen Sie eigentlich die verrückten Zeiten?“, frage ich noch. „Wie oft hab ich die Welt schon untergehen sehen“, meint sie, „aber wir Menschen sind stärker als wir denken. Und Gott lässt die Sonne scheinen“. „Ach, so gelassen altwerden dürfen“, seufze ich. Darauf sie: „Nun ja, 100 will ich nicht werden, auch wenn da der Bundespräsident kommt. Der soll sich mal lieber um die Flüchtlinge kümmern. Tschüss Kindchen“. Als sie geht, denke ich nur: Wahnsinnsweib.

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