Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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22MAI2020
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Gekränkter Stolz. Kaum ein anderes Gefühl kann so sehr an meinem Selbstbewusstsein nagen. Da hab ich doch so viel geleistet und bin so tüchtig und wichtig, und dann werde ich einfach übergangen. 

Kränkungen solcher Art gibt es nicht nur im persönlichen Bereich. Auch das stolze Selbstbild der Menschheit kann tiefe Kränkungen erfahren. Darauf hat vor über hundert Jahren Sigmund Freud hingewiesen. Er hat in der Geschichte drei große Kränkungen ausgemacht, die alle mit umstürzenden wissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden sind. 

Die erste große Kränkung der Menschen in ihrem Selbstbild ist danach die Entdeckung von Nikolaus Kopernikus im 16. Jahrhundert. Er hat erkannt, dass die Sonne der Mittelpunkt des Universums ist, und nicht die Erde und nicht der Mensch auf ihr. 

Die zweite Kränkungist für Freud mit dem Namen Charles Darwin verbunden. Die biologische Verwandtschaft mit den Tieren, insbesondere den Affen, erschien den Menschen damals als größte Demütigung. 

Die dritte große Kränkung unseres Stolzes sah Freud in seinen eigenen Erkenntnissen.  Bei seiner Arbeit als Psychiater fiel ihm auf, wie stark unser Gefühlsleben, aber auch unser Denken von der Kraft des Unbewussten bestimmt wird. Wir sind gleichsam nicht ‚Herr im eigenen Haus‘. Noch eine ungeheure Kränkung, geradezu eine Majestätsbeleidigung für aufgeklärte Menschen. 

Vielleicht ist ja auch das, was wir derzeit erleben, eine solche Kränkung. Eine vierte. Wir verfügen über atemberaubende Technologien, haben die ganze Welt zu einem vernetzten Dorf gemacht und entwerfen Maschinen, die an unserer Stelle denken und entscheiden können. Und dann – kommt da so ein Virus und legt die ganze Welt lahm. Verunsichert unstief.Zeigt uns, dass wir keine Götter sind und auch keine werden. Sondern Teil der Schöpfung bleiben. Ihren Gesetzen unterworfen, von denen wir geglaubt hatten, wir hätten sie quasi selbst in die Hand genommen. 

Die historischen ‚Kränkungen‘, die Sigmund Freud beschrieben hat, haben uns zurechtgestutzt in unserem Größenwahn und in unseren Allmachtsphantasien. Auch die Kränkung mit Namen Corona wird uns verändern. Wie, das weiß noch niemand. Aber ich habe die Hoffnung, dass uns das nicht nur schmerzen wird. Sondern, bei allem Schmerz, auch zeigen, was wirklich wichtig ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30914
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