SWR2 Wort zum Tag

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08APR2020
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Was kann uns trösten, wenn wir einen Menschen verloren haben, der uns über alles lieb ist?

Niels Bohr, der dänische Physiker und Nobelpreisträger, musste miterleben, dass zwei seiner Söhne vor ihm starben. Der eine ertrank vor den Augen seines Vaters bei einer Segeltour, der andere erkrankte und starb mit zehn Jahren. Niels Bohr fing, so las ich, seine Trauer durch ein buddhistisches Märchen auf.

Kisa Gotami war eine fröhliche, junge Frau. Ihr Glück wurde vollkommen, als sie und ihr Ehemann ihr erstes Kind bekamen. Doch eines Morgens wollte Kisa Gotami ihr Kind wecken, aber es rührte sich nicht mehr. Es war völlig unerwartet über Nacht gestorben.

Kisa Gotami war noch nie zuvor dem Tod begegnet und sie wollte ihn nicht akzeptieren. In ihrer Not wendet sie sich direkt an Buddha. Er sagt zu ihr: „Zuerst musst du mir einen Topf mit weißen Senfsamen bringen". „Das ist alles?" fragte sie erstaunt. „Ja, gewöhnlichen Senfsamen. Allerdings muss er aus einem Haus kommen, in dem noch niemals in der Vergangenheit ein Sohn, eine Tochter oder sonst jemand gestorben ist."

Kisa Gotami machte sich sofort auf die Suche und fragte bei ihren Nachbarn nach einem solchen Senfsamen. Die aber antworteten: „Ach Frau, was verlangst du da. Erst vor kurzem ist unsere geliebte Mutter gestorben und davor unser jüngster Bruder. Viele Generationen haben hier gelebt und sind gestorben. Das ist der Lauf der Welt.”
So ging sie den ganzen Tag von Haus zu Haus, aber überall erhielt sie eine ähnliche Antwort. Als sie am Abend immer noch keine Medizin gefunden hatte, da wurde ihr klar: „Ich dachte, ich allein hätte ein Kind verloren, aber in jedem Haus gibt es so viele Menschen, die gestorben sind. Der Tod ist unser Begleiter und es scheint niemanden zu geben, der ihm entkommen kann. " Während sie so darüber nachdachte, wurde ihr Herz, das bisher nur von Trauer erfüllt gewesen war, weit und ruhig, denn sie erkannte: Alle lebenden Wesen sind dem Tod wie einem unabänderlichen Gesetz unterworfen. Und der macht keinen Unterschied, ob einer alt ist oder ganz jung. Unerwartet kommt er, in jedem Augenblick ist er bereit, unser Leben in dieser Welt zu beenden.

Es heißt, Niels Bohr fing mit dieser Geschichte seine Trauer auf. Sein Schicksal, so erkannte er, war das der Kisa Gotami. Und ihres das der vielen, die auch um einen Menschen trauerten.
Um sich trösten zu lassen, brauchte er nicht den Verstand eines Nobelpreisträgers. Es genügte ihm zu erkennen, dass er ein Mensch wie alle anderen ist.

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