SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

03APR2020
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Baskenmütze. Dazu ein weißer Bart und eine schlichte, eckige Brille auf der Nase. So behalte auch ich den Mann aus Nicaragua in Erinnerung. Vor vier Wochen ist Ernesto Cardenal gestorben, mit 95 Jahren. Begegnet bin ich ihm vor vielen Jahren auf einer Lesung. Mit einem Liebesgedicht hatte er die Lesung begonnen. Es war die Huldigung an seine große Jugendliebe. Damals war ich irritiert. Wie passte das zusammen? Denn dort vorne auf der Bühne saß nicht nur ein Schriftsteller, der Gedichte vorgetragen hat, sondern auch der katholische Priester.
Das Vorurteil, katholische Priester wüssten nichts über die Liebe zu sagen, weil sie sich da nicht auskennen, das hat auf Ernesto Cardenal jedenfalls nicht zugetroffen. Mehr noch: Für alles, was er in seinem Leben getan hat, war die Liebe der Ausgangspunkt. Aus ihr hat er alles abgeleitet. In einem einzigen Satz hat er mir und der Welt seine Logik erklärt: "Die Liebe zur Schönheit der Natur und zu den Frauen hat mich zu Gott geführt, und die Liebe zu Gott zur Revolution."
Diese Worte haben mir geholfen zu verstehen, weshalb Ernesto Cardenal sich in die Politik seines Heimatlandes immer wieder eingemischt hat. Und warum er bis zum Äußersten gegangen ist und sich am Sturz eines Diktators in Nicaragua beteiligt hat. Um Jesus nachzufolgen hat es seiner Ansicht nach nicht ausgereicht nur in der Kirche zu predigen: er hat eine gerechte Gesellschaft gefordert und das nicht erst im Jenseits. Deshalb hat er gehandelt. Aus Liebe zu den Menschen und aus Liebe zu Gott.
Cardenal hatte viele Unterstützer, nicht nur in Lateinamerika, auch in Europa. Doch der Vatikan ist mit Cardenals Radikalität nicht klargekommen. Als er nach der Revolution Kultusminister gewesen ist, hat Papst Johannes Paul II. ihn aufgefordert, sich zu entscheiden: Kirche oder Politik. Für Cardenal gab es nichts zu überlegen, er blieb als Christ Politiker. Der Papst hat ihn daraufhin suspendiert; er hat ihm verboten, Gottesdienste zu feiern und Sakramente zu spenden. 35 Jahre lang.
Papst Franziskus hat die Suspendierung letztes Jahr aufgehoben; ein Jahr vor Cardenals Tod. Endlich! 

Wenn ich heute Diskussionen darüber höre, ob sich Kirche in die Politik einmischen darf, dann gibt es für mich nur eine Antwort: Ja, sie muss es sogar! Gott hat kein exklusives Zuhause unter dem Dach der Kirche. Im Gegenteil: Gottes Zusage von Liebe und Gerechtigkeit gilt allen Menschen. Damit diese sich aber erfüllt braucht es Menschen, die aus dieser Liebe heraus handeln, in Kirche undGesellschaft – wie Ernesto Cardenal.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30605
weiterlesen...