SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

„Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet und der Tag be-ginnt?“, fragte einmal ein jüdischer Rabbi seine Schüler.
Die Schüler dachten kurz nach; dann war die Antwort des ersten heraus: „Ist es dann, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unter-scheiden kann?“ – „Nein“, sagte der Rabbi.
„Vielleicht ist es dann, wenn man von weitem einen Dattel- von einem Fei-genbaum unterscheiden kann“, erwiderte ein anderer Schüler. Doch der Rabbi schüttelte nur stumm den Kopf.
„Aber wann soll es denn sonst sein?“ fragten die Schüler ratlos.
Da neigte sich der Rabbi seinen Schülern zu und gab zur Antwort: „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und deine Schwester oder deinen Bruder erkennst. Doch bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“
Ich mag diese einfache Geschichte mit ihrem knappen Dialog und ihrem überraschenden Ausgang. Eine chassidische Geschichte ist es. Die Chassi-dim, eine Gruppe orthodoxer Juden aus Osteuropa, haben sich einen Erin-nerungsschatz an ihre Glaubensväter in Form kleiner Anekdoten bewahrt. Ihre Geschichten erzählen in kurzer und prägnanter Weise eine Begeben-heit aus dem Leben eines geistlichen Lehrers und beantworten damit in origineller Weise Fragen der eigenen Lebensgestaltung.
„Woran erkennt man, dass die Nacht zwischen den Menschen weicht und der Tag beginnt?“ – Das ist in diesem Fall die metaphorisch verkleidete Frage des Rabbi. Witz und Pointe der Geschichte liegen in der verborgenen Metapher von Nacht und Tag.
Auf des Rabbis Frage, wann die Nacht endet und der Tag beginnt, würde ich wahrscheinlich auch eine natürliche und rationale Antwort geben. Da liegt es nahe, das Entscheidungskriterium in der so schwierigen Dämmer-stunde des Morgens – in der Grauzone zwischen Nacht und Tag – zu su-chen.
Die Schüler des Rabbis bemerken scharfsinnig, dass es wohl etwas mit dem anbrechenden Morgenlicht zu tun haben muss. Sie denken, es ist eine Frage der Tageshelligkeit: Wann ist genügend natürliches Licht vorhanden, um zu Recht sagen zu können: „Jetzt ist es Tag und nicht mehr Nacht? Wie genau muss mein Auge wahrnehmen können, was um mich her ist?“ Hierin muss doch die Antwort liegen!
Doch wie genau muss es um die Wahrnehmungsfähigkeit bestellt sein? Reicht schon der erkennbare Unterschied zwischen Hund und Schaf? Oder bedarf es des detaillierteren Vermögens, etwa einen Dattelbaum von ei-nem Feigenbaum unterscheiden zu können? Am Ende scheint es schlicht eine Ermessensfrage zu sein, und man möchte schon mit den Schülern verzweifeln, weil eine allgemein befriedigende Antwort nicht zu erwarten ist.
Die Frage „Wann beginnt der Tag?“ hat aber einen gleichnishaften Sinn. Um auf ihn zu stoßen, muss man sozusagen die Spur des Denkens wech-seln: Entscheidend ist, ob es uns im Licht des Tages gelingt, etwas mitein-ander zu verbinden, was sich sonst fremd bleibt – nämlich das Gesicht ei-nes Menschen und die innere Gewissheit: Er ist mir so nah wie ein Bruder; sie ist mir so nah wie eine Schwester.
Im Dunkel der Nacht bleiben wir einander fremd. Wir kennen und erken-nen uns nicht. Wo aber Dunkelheit herrscht, herrschen auch Angst und das Bedürfnis, sich vor anderen zu schützen, zu verschanzen, zu verbergen.
Wann es Tag wird unter uns, ist jedoch keine Frage der Quantität, sondern eine Frage der Qualität. Es ist nicht die Frage, ob genügend natürliches Licht vorhanden ist, sondern die Frage, ob das Licht der Nächstenliebe in unseren Alltag hineinleuchtet und ihn erhellt. https://www.kirche-im-swr.de/?m=3034
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