Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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27JAN2020
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„Vor dem Antisemitismus ist man nur noch auf dem Mond sicher.“[1] Ich stolpere über diesen Satz. Er findet sich in einem Beitrag des Journalisten Heribert Prantl. Prantl zitiert dabei die jüdische Philosophin Hannah Arendt. Der Satz klingt pessimistisch, aber wenn ich mich momentan in unserer Gesellschaft umschaue, gewinne ich manchmal tatsächlich den Eindruck: Man ist nur noch auf dem Mond vor Antisemitismus wie auch vor Rassismus und Hass sicher. 

Besonders bedrückend klingt der Satz aber heute, am 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Von den Zuständen dort berichten bis heute die wenigen Menschen, die die organisierte Massentötung überlebt haben. Dazu gehört die 95jährige Ester Bejarano. Sie kommt mit 18 Jahren nach Auschwitz. Sie überlebt, weil sie einen Platz im Mädchenorchester bekommt. Dieses Orchester ist eine perfide Einrichtung der Nazis. Sie missbrauchen die Mädchen und die Musik für ihre Todesmaschinerie. Ester Bejarano meldet sich als Akkordeonspielerin, obwohl sie eigentlich nur Klavier spielen kann. Im Rückblick sagt sie dazu:[2]

„Dann mussten wir dort stehen und spielen, wenn diese Züge ankamen. Das waren Personenzüge. […] Die Fenster waren geöffnet, die haben uns zugewunken. Die haben gedacht: Naja, wo es Musik gibt, da kann es ja nicht so schlimm sein. […] Wir haben geweint, wir haben mit Tränen in den Augen gespielt, hinter uns stand die SS mit ihren Gewehren, wenn wir nicht gespielt hätten, hätten sie uns abgeknallt. Das war eine Situation, die also für mich jedenfalls das Schlimmste war, was ich dort erlebt habe. 

Dieser Zeitzeuginnenbericht geht mir unter die Haut. Und im Wissen um diese Schicksale kann und darf der Satz „Vor dem Antisemitismus ist man nur noch auf dem Mond sicher“ nicht hingenommen werden. Heribert Prantl fordert stattdessen sinngemäß: Wenn das so ist, dann muss der Mond auf die Erde geholt werden![3] Dazu gehört, wachsam zu sein und den Mund aufzumachen: Unrecht benennen und für Recht eintreten. Frieden und Sicherheit fallen schließlich nicht von Himmel, sondern hängen von jeder einzelnen Person in unserer Gesellschaft ab.

 

[1] Heribert Prantl, Braune Mörder. Ein Blick in den Abgrund des Versagens, in: Harald Roth (Hg.), Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten, München 2014, 237-248, 248.

[2] Begegnungen mit Christopher Hoffmann und mit Ester Bejarano, vom 27.01.2019. Manuskript unter: https://www.kirche-im-swr.de/?page=manuskripte&autor=227&offset=50 (Zugriff: 2020-01-20).

[3] Vgl. Prantl, ebd.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30235
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