SWR2 Wort zum Tag

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05DEZ2019
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Geduld ist eine Tugend. Wie jede Tugend wird sie Menschen nicht auf dem Silbertablett serviert, sondern erfordert mühsames Training. Die wenigsten Menschen werden geduldig geboren. Babys wollen sofort Nahrung, wenn sie hungrig werden, und sie werden sehr schnell sehr missgelaunt, wenn sie diese Nahrung nicht sofort bekommen. Babys sind mit gutem Grund zornig, wenn es mit der Nahrung nicht sofort klappt. Später lernen sie – hoffentlich jedenfalls -, dass man nicht gleich stirbt, wenn sich Bedürfnisse nicht sofort erfüllen. Und noch später – hoffentlich – dass es nicht schlecht ist, eine Reflexionsschleife einzuziehen, weil eine spontane Bedürfniserfüllung auch ihre Tücken haben kann. Geduld ist deshalb eine Tugend, weil sie – wenn man nicht gerade ein Baby ist – nachhaltiger wirkt als Hektik. Ein altgriechisches Wort für Geduld, Makrothymia, ist zusammengesetzt aus einem Wort, das groß bedeutet, und einem anderen Wort, das man sowohl mit Zorn als auch mit Mut oder Lebenskraft übersetzen kann. Dieses Wort hat in sich die ganze Entwicklung der Tugend bewahrt: Lebenskraft, Zorn und Mut transformieren sich zu etwas Größerem: Zur Tugend der Geduld. Offenbar ist dieses Wort für Geduld der Ansicht, dass sich aus den Zutaten Zorn, Mut und Lebenskraft etwas Größeres entwickeln kann. Ich glaube sogar, dass Geduld dazu verhilft, groß zu denken.

Der Advent ist ja eine Zeit die förmlich dazu einlädt, Geduld zu erlernen. Wer sofort alle Geschenke aufreißt, alle Kerzen am Adventskranz auf einmal anzündet und am 1. Advent schon die ganze Plätzchenration aufgegessen hat, der verdirbt sich die Zeit. Ein Ziel des Advents könnte also sein, groß denken zu lernen. Ich erinnere mich noch gut an den Vortrag eines Unternehmensberaters, den ich als junge Pfarrerin gehört habe, damals hochschwanger. Er machte uns Mut, unkonventionelle Wege zu gehen, auch einmal gewohnte Denkrahmen zu sprengen, eben groß zu denken. Geduld war eigentlich nie meine Stärke, und ich war damals eine sehr zornige junge Frau. Aber was der Unternehmensberater erzählte, hat mir eingeleuchtet. Ich habe es im Herzen behalten. Es war ein Impuls für mich ganz persönlich, aber auch für meine Haltung in der Welt. Mir scheint, es ist insgesamt wichtig, geduldig groß zu denken. Damit wir gemeinsam über den engen Horizont egoistischer Interessen hinauszugehen wagen. Mit Mut, Lebenskraft und der Energie des Zorns über eine Welt, die immer noch viel zu schrecklich und ungerecht ist, könnten wir zu Lösungen finden. Für das Kind, das ich damals erwartete, für diese Welt, für die Kirche, in der ich damals meine ersten Schritte als Pfarrerin ging. Alle, auch ich, brauchten und brauchen zornige Energie und eine Geduld mit weitem Blick. Vielleicht haben Schwangere ein besonderes Gefühl dafür, dass das mit Advent zusammenhängt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29857
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