SWR4 Sonntagsgedanken

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01DEZ2019
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Ich bin Anuschka eine Entschuldigung schuldig. Leider schon seit 17 Jahren. Leider wird das nichts mehr werden. Ich habe keine Ahnung, wo sie lebt, was sie macht. Ich weiß nichts mehr über sie. Mein schlechtes Gewissen wird mich weiter begleiten.

Anuschka und ich haben zusammen Tanzkurs gemacht. Zusammen haben wir die Kurse Bronze, Silber und Gold besucht. Anschließend war klar: Wir machen zusammen weiter und gehen in die Formationsgruppe. So haben wir das damals ausgemacht. Ich habe dann aber ein anderes Mädchen kennengelernt. Sie wissen bestimmt, wie das ist: Zum ersten Mal verliebt! Alles andere zählt da nicht mehr.

Eigentlich hätte ich Anuschka sagen müssen, dass ich deshalb den Tanzkurs mit einer anderen machen möchte. Ich war aber zu feige. Also habe ich nicht angerufen. Ich bin einfach weg geblieben. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen deswegen. Aber es war halt so.

Ich habe Anuschka dann ein paar Jahre nicht gesehen. Ich hatte die ganze Geschichte im Grunde vergessen. Dann stand sie plötzlich auf dem Bahnhof am Bahnsteig gegenüber. Schnell habe ich mich weggedreht. Aber eine innere Stimme hat gesagt: „Geh rüber, zieh es glatt! Das ist Deine Chance.“ Dann kam der Zug und ich habe mich wieder gedrückt. So bin ich Anuschka die Entschuldigung schuldig geblieben.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie gut verstehen, was ich da beschrieben habe. Wer ist denn einem anderen Menschen noch nichts schuldig geblieben? Ich glaube, das ist bei jedem Menschen so.

Niemand ist perfekt. Jeder macht Fehler. Ich merke, wie mir dieser Gedanke gut tut und mein Gewissen beruhigt. Und ich denke auch immer wieder: Wenn ich jedem, der mir etwas schuldig geblieben ist, hinterherrenne – oder umgekehrt, wenn mir jeder hinterherrennen würde, der mir was schuldet – das würde nicht aufhören. Deshalb habe ich Geduld mit den Menschen, weil ich ja weiß: Im Grunde bin ich genauso.

Schon der Apostel Paulus hat darüber nachgedacht. Er wollte die Gemeinde in Rom besuchen. Und um sich dort schon einmal vorzustellen, hat er den Menschen einen Brief geschrieben. Zum Ende hin schreibt er: Bleibt niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt. Er meint damit: Alles, was Ihr Euch schuldet, ist gegenseitige Liebe.

Das hat ganz schön Anspruch. Für mich ist das immer ein bisschen schwierig, das anzunehmen. Ich merke doch, wie oft ich jemandem etwas schuldig bleibe. Und nun das: Liebt einander. Das ist zwar eine Kernbotschaft im Christentum. Aber alle lieben? Fällt mir persönlich ganz schwer. Ich fürchte, die Liebe bleibe ich anderen besonders oft schuldig.

Wahrscheinlich hat Paulus damals gewusst, dass er da die Latte für die Menschen ziemlich hoch legt. Deswegen schreibt er noch eine Begründung dazu. Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Diese Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Paulus erklärt dann ganz konkret: Es geht um die 10 Gebote. Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht neidisch sein, Du sollst nicht töten. Wer sich an die Gebote hält, der ist auf einem guten Weg mit dem „Liebt einander“.

Ich glaube: Paulus meint da eine Liebe, die sich um andere kümmert. Da geht es weniger um Verliebtheit und Romantik. Da geht es um Wertschätzung. Das heißt, andere Menschen mit Respekt behandeln und freundlich sein. Da geht es um Fürsorge. Nicht wegschauen, wenn es anderen schlecht geht. Sondern hingehen und helfen. Diese Liebe schulden Christinnen und Christen anderen. Im Moment finde ich das Wort „Geduld“ gut, um Nächstenliebe praktisch zu machen. Geduld täte den Menschen gut. Verstehen Sie mich nicht falsch. Geduld heißt nicht tatenlos abwarten. Geduld heißt Zeit nehmen. Geduld heißt, den anderen zu respektieren.

Ich finde das gut, dass Paulus da so klar und deutlich redet. Aber beim Satz ‚Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst‘ kommt bei mir die nächste Frage. Was ist denn die Liebe zu mir selbst? Wäre das nicht Egoismus? Selbstsucht? Ich kann auch gar nicht behaupten, dass ich mich 24 Stunden am Tag liebe. Ich kann mich über mich ärgern und sogar schämen. Wenn ich an die Geschichte von mir und Anuschka denke, dann hab ich ein schlechtes Gewissen. Ich war nicht freundlich und ich habe weggeschaut. Ich habe in Sachen „Liebt einander“ versagt. Da heißt es nun Geduld haben mit mir selbst und es beim nächsten Mal besser machen. Die Geduld mit mir selbst nicht aufgeben. Wenn ich Anuschka denke, dann schicke ich manchmal ein Stoßgebet gen Himmel: Lieber Gott, mach, dass sie weiß, dass es mir Leid tut. Zumindest bin ich mir sicher, dass Gott mit mir Geduld hat und mir verzeiht, weil ich bereue, wie ich Anuschka behandelt habe.

Und andersherum gilt dasselbe: Geduld haben, wo ich denke, dass mir einer was schuldig bleibt. Sei geduldig mit Deinem Nächsten wie mit Dir selbst. Passt das nicht toll in den Advent? Heute ist ja der 1. Advent. Ich glaube, das ist eine gute Zeit für Erwachsene, es mit der Geduld auszuprobieren. Ich fang gleich damit an. Mein Adventskalender: 24mal Geduld haben! Ich bin gespannt, was das bewirkt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen gesegneten und schönen 1. Advent.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29856
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