SWR1 Begegnungen

SWR1 Begegnungen

06OKT2019
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Annette MehlhornAnnette Bassler trifft Dr. Annette Mehlhorn, Pfarrerin der deutschsprachigen Gemeinde in Shanghai

Heimat finden im Glauben
Seit 6 Jahren lebt und arbeitet sie in Shanghai. Als Pfarrerin für die deutschsprachige Gemeinde dort.

Shanghai ist eine absolut faszinierende Stadt, ich hab in Rom, in Jerusalem und in Berlin gelebt, aber Shanghai übertrifft sie alle.

Stadt der Zukunft, so nennt sie ihr katholischer Kollege. Mit dem sie diese „ökumenische Gemeinde“ leitet. Eine Community von 9000 Deutschen lebt in Shanghai. Wirtschaftsexperten, Manager, Vertreterinnen internationaler Firmen.

Die Deutschen, die man hier trifft, das sind alles Pioniere, sonst würden die nicht hierherkommen. Und das heißt, du hast hier mit Menschen zu tun, die eine sehr hohe Bereitschaft haben, sich hier auf ein Wagnis einzulassen, auf ein Experiment und das find ich für mich sehr vorteilhaft, weil ich auch eine war, die immer gern ausprobiert hat.

So organisiert sie Spaziergänge durch die Stadtviertel, in denen sie von der christlichen Geschichte und Kultur der Stadt erzählt. Diese Community weiß es aber vor allem sehr zu schätzen, dass die beiden Geistlichen gut ausgebildete und dem Beichtgeheimnis verpflichtete Seelsorger sind. Oft ist sie und ihr Kollege der letzte Anker, ein Fels in der Brandung.

In der Seelsorge geht es oft um handfeste Probleme in den Familien: die Männer, die fremdgehen, die Männer, die mit ihrem Leistungsverhalten nicht klarkommen und die Frauen, die nicht damit klarkommen, dass die Männer dauernd weg sind. Die Kinder, die zum Teil dann auch von den Eltern viel alleingelassen werden und deshalb dann über die Stränge schlagen.

Diese Expats- Menschen, die im Ausland leben- oft führen sie ein unstetes Leben. Wechseln manchmal alle zwei Jahre das Land, die Sprache, das Zuhause, den Bekannten- und Freundeskreis. Was für eine Herausforderung! Auch und gerade für den Glauben. Annette Mehlhorn versucht Antworten auf Fragen wie: Was gibt mir Halt in dieser Heimatlosigkeit? Was macht mich stark, wenn meine Leistungsfähigkeit nicht genügt?

Zum einen ist für die Deutschen sehr wichtig, dass sie in der Gemeinde einen Ort haben, wo es eben nicht um Leistung und Erfolg und Größe und Stärke und Geld geht, sondern wo es um eine andere Wertigkeit.

Nicht Leistung, sondern Liebe macht uns zu denen, die wir sind. Und die können wir uns nie erarbeiten, die ist ein Geschenk. In der Fremde habe auch ich die Botschaft von der Gnade Gottes ganz neu entdecken können. Und so geht es den Deutschen, die in Shanghai leben.

Die Uhren ticken hier schneller. Dass man einen Moment innehalten kann, dass man einen Moment zur Ruhe kommt- selbst die Konfirmanden. Ich frag ja am Ende des Konfirmandenjahrs immer: was hat euch am besten gefallen? und sie sagen: die Gottesdienste und die Predigten. Das hab ich in Deutschland selten von Konfirmanden gehört.

Fremdheit kann beflügeln

Seit 6 Jahren ist Annette Mehlhorn Pfarrerin der deutschsprachigen Gemeinde in Shanghai. Sie wohnt in einem Hochhaus im 24. Stock inmitten von Chinesen. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung schlendere ich durch eine supermoderne Einkaufsmall und durch ein Sträßchen mit niedrigen Häusern. Vor jedem Haus sitzt jemand und verkauft etwas.  Eine junge Frau zum Beispiel sitzt inmitten von Plastikschüsseln mit  Fischen drin. Vor meinen Augen holt sie einen Aal aus dem Wasser, tötet ihn, nimmt ihn aus und reicht ihn einer Kundin. Daneben ihr Baby in der Wippe. Annette Mehlhorn kennt und mag ihre Nachbarn, macht jeden Morgen mit ihnen Tai Chi im Park. In der Wohnung angekommen, lädt mich Annette Mehlhorn zum Tee ein. Als ich ihr von ihren Nachbarn erzähle, lacht sie.

Die sind unglaublich neugierig hier, die Leute und kontaktfreudig und gesellig fröhlich und die wollen was wissen und.- die Menschen hier sind auf eine ganz eigene Art und Weise demütig, bescheiden, grad so die einfachen Leute.

Aber gerade die- widerspreche ich ihr, die kümmern sich nicht darum, wenn ein Fremder auf der Straße liegt und sichtlich in Not ist. Da ist nix mit „barmherziger Samariter“. Das – erklärt sie mir- hat was mit der Kultur hier zu tun.

Wenn du Menschen nicht kennst und keine Beziehung zu denen hast, hast du auch keine menschlichen Verpflichtungen denen gegenüber. Aber wenn du Menschen kennst, dann sind die von einer Freundlichkeit und einer Gastfreundschaft und einer Beziehungsstärke, die ist wirklich bemerkenswert.

Schroffheit im öffentlichen Raum und überwältigende Herzenswärme, wenn man sich kennt- genau das habe ich auf Reisen auch erlebt. Müssten wir einander nicht einfach besser kennenlernen?

Ich bin eine vehemente Vertreterin des Dialogs schon immer gewesen. Ich glaube, der Dialog ist das Mittel, Menschen miteinander zu verbinden und ihnen auch zu helfen, ihre Interessen miteinander auszuwägen. Das ist nicht ganz einfach hier, weil das eigentlich nicht sehr gewünscht wird. Aber auf der anderen Seite: wenn du signalisierst, dass du Interesse an den Leuten hast, dass du etwas vorantreiben willst, dann haben die auch einen sehr hohen Respekt vor dir und unterstützen dich.

Am Ende meines Besuches macht mich Annette Mehlhorn neugierig. Sie erzählt mir von chinesischen Christen, die sie kennt.

Was ich immer total spannend finde ist, wenn ich mit chinesischen Christen über ihren Glauben rede und darüber, wie chinesische Geschichte und Kultur in ihren Glauben einfließt und wie die sich dort wiederspiegelt.

Annette Mehlhorn entdeckt das besonders daran, wie die Chinesen die Bibel in ihre Sprache übersetzen. Für die meisten Chinesen stehen das Wohl der Gemeinschaft und materieller Wohlstand an erster Stelle. Dass das Wohl des Einzelnen wertvoll ist- noch bevor er etwas geleistet hat, dass Gott jeden Menschen voraussetzungslos liebt- in Shanghai hat für mich diese Botschaft Jesu einen ganz neuen Glanz bekommen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29556
weiterlesen...