SWR3 Gedanken

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23SEP2019
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Ich gehe durch eine Art Wald. Ein Wald aus Kreuzen: Kreuze aus Holz oder Metall. Kreuze in allen Größen und Farben. Manche schon verrostet, verwittert, verhakt in andere noch kleinere Kreuze.

Im 19. Jahrhundert sind hier, auf diesem Hügel in Litauen, die ersten Kreuze aufgestellt worden. Zum Gedenken an Menschen, die der Zar nach einem Aufstand hinrichten ließ. Es blieb nicht bei dem einen Aufstand und auch nicht bei der einen Strafaktion. Viele Kreuze sind in der Zarenzeit aufgestellt worden. Zum Gedenken, als Trost, als Protest.  

In der Stalinzeit haben Rückkehrer aus Straflagern weitere Kreuze aufgestellt. Zur Erinnerung an diejenigen, die die Gulags nicht überlebt haben. Diese Art des Protests wollte die Partei verhindern. Sämtliche Kreuze, damals über 2000, hat sie deshalb 1961 vom Berg holen und vernichten lassen. Aber schon in der nächsten Nacht wurden neue Kreuze aufgestellt. Gegen das Unrecht, für die Opfer.

Drei weitere Male hat das Regime den Berg geräumt, drei weitere Male hat sich der Berg innerhalb kürzester Zeit mit neuen Kreuzen gefüllt. Schließlich haben die Kommunisten die Säuberungsaktionen aufgegeben. Aber weil das Unrecht nicht aufgehört hat, wächst der Berg der Kreuze bis heute.

Und während ich durch diesen Kreuzwald stapfe, lese ich Inschriften. Auf Litauisch, auf russisch, auf englisch, auf deutsch, auf italienisch, auf polnisch. Unrecht, Gewalt und Leid gibt es in jedem Land. Hier auf diesem kleinen Berg können alle davon lesen. Hier stehen die Namen geschrieben von Menschen, die Unrecht, Gewalt und Leid erlitten haben.

Hier stehen Protestmale gegen das Unrecht und gegen den Tod. Das Kreuz ist das Symbol dafür, dass Christus den Tod überwunden hat. Die Kreuze auf dem Berg in Litauen sind das Symbol dafür, dass uns kein Tod daran hindern kann, gegen Ungerechtigkeit zu protestieren. Weil wir glauben, dass Gottes Liebe größer ist als menschliches Unrecht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29439
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