Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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17SEP2019
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Jakobsmuscheln haben immer einen Riss. Im Sommerurlaub in Frankreich haben meine Familie und ich am Strand Muscheln gesammelt. Die schönen, großen Jakobsmuscheln waren am schwierigsten zu finden. Und die Paar, die wir gefunden haben, hatten alle einen Riss.

Ich glaube, so ist das auch mit dem Leben. Makellos, wie ich mein Leben gerne hätte, ist es nicht. In jedem Menschenleben gibt es Risse. Manche haben einem andere Menschen oder das Schicksal zugefügt. Aber manche Risse stammen auch von einem selbst: Neid, Zorn, Angst oder Perfektionismus können solche Risse sein. Ich denke, jeder kennt sie. Und vielleicht gibt es ja einen ganz bestimmten Riss, der mir besonders zu schaffen macht. Einen, von dem ich den Eindruck habe: Er hindert mich immer wieder daran, so zu sein, wie es gut wäre. Ein Riss, den ich nicht schließen kann, egal wie sehr ich mich anstrenge.

So ein Riss kann aber auch etwas Gutes haben. „Da ist in allem ein Riss“, heißt es in einem Lied von Leonard Cohen, „aber gerade so kommt das Licht hinein“. „There is a crack in everything. That's how the light gets in“.

Der Heidelberger Theologe Christian Möller hat diese Verletzung den „heilsamen Riss“ genannt. Der Riss ist schmerzhaft und heilsam zugleich. Er erinnert mich daran: Ich bin nicht, wie ich sein soll. Ich bin nur ein Mensch. Mir gelingt es, manche Dinge in meinem Leben zum Guten zu verändern. Aber alle Versuche, mich selbst zu optimieren, stoßen irgendwann an eine Grenze. Egal wie sehr ich dagegen ankämpfe. Das ist schmerzhaft.

Und gleichzeitig ist der Riss heilsam. Denn er öffnet mich auch für Gott. Durch den offenen Riss kommen Gottes Gnade und Liebe in mein Leben. Gott liegt etwas an mir, trotz der Eigenschaften, die mir so sehr zu schaffen machen. Er sucht meine Nähe trotz meiner Angst, trotz meines Zorns, trotz meines Neids oder was immer es ist. Das hilft mir, mit meinem Riss zu leben und lässt mich aufhören zu kämpfen. Ich lerne: Ich bin nicht makellos – aber ich brauche es auch nicht zu sein. Ich bin ein Mensch – und ich darf ein Mensch sein. Ich stoße an meine Grenzen – und auch das darf sein. Weil Gott gnädig zu mir ist, kann ich auch gnädig zu mir selbst sein. Das ist heilsam.

Die Jakobsmuscheln, die wir am Strand in Frankreich gefunden haben, haben wir mit nach Hause genommen, trotz ihrer Risse. Eine davon liegt auf meinem Schreibtisch. Sie erinnert mich daran: „Da ist in allem ein Riss, aber gerade so kommt das Licht hinein“.

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