Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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19SEP2019
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„Der Morgen ist gut, wenn jemand kommt…“ sagt er stockend, mit dem vertrauten Lächeln in der Stimme. Ich umarme ihn, seine Arme hängen wie Fäden an den einst breiten Schultern. Es riecht nach Urin und Multivitaminsaft. „Ja, ich bin jung“, lacht er. „Ich werde gefüttert, gewickelt, wie ein Kind - nur alt“.

Seine Finger versuchen meine zu drücken. „Kraft hatte ich immer“, prahlt mein Onkel. Ein Trainer der deutschen Leichtathleten war er. Lange her die olympischen Zeiten. Für ihn manchmal nicht. „Ich muss zum Training“, sagt er ab und an mit seinen 82 Jahren, kurz bevor einer der Pfleger ihn in den Rollstuhl hievt. Was früher war, behält er besser als die Momente im Hier und Jetzt.

„Das liegt am Bums“, erklärt er wieder und wieder, „einfach umgefallen“. Ja, so war es. Mit knapp 50 Jahren. Sein Herz steht damals still. Einige Takte nur. Und der Leichtathlet ist zurück gesetzt auf Anfang. Ein Bett. Eine zweite Geburt. Ein Wunder, wieder aufzuwachen. Doch leicht ist es nicht, laufen, springen, sprechen… alles weg.

 „Ja, ich hab´gekämpft, sportlich halt!“ Sein Gesicht strahlt sich jede Falte weg. „Aber ohne meine Lore hätte ich es nie geschafft, tolle Frau deine Tante“. Sie lächelt leise, auch wenn ihr oft zum Weinen ist und meint: “Ja, wenn ich das nur immer so hören würde“. Denn wie viele Pflegebedürftige mit Demenz ist er oft böse - auf sich, auf die, die er am meisten liebt. „Ich will euch tragen bis ins hohe Alter und bis ihr grau werdet“, verspricht Gott in der Bibel. Aber manchmal ist das nur schwer zu glauben und das Älterwerden schwer zu ertragen.

Doch während mein Onkel erzählt, wird er wieder zwanzig. Und fragt: „Nächstes Jahr fahren wir Ski, ja?“ Ich nicke und seufze innerlich. Er merkt es scheinbar und sagt zu mir: “Vielleicht warten wir noch, bis du fitter bist“. Wir lachen herzhaft. „Komm, sag Tschüss oder auf Wiedersehen – je nachdem.“ Er zieht mich an seine raue Backe. Wiedersehen, sage ich und zu mir selbst: Trage die beiden noch ein gutes Stückel, Gott. Ich mag sie noch oft besuchen, Onkel und Tante. Und im Grunde - mich selbst.

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