SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

16SEP2019
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In meinem Zimmer steht eine große Holzfigur auf dem Boden. Es ist eine mittelalterliche Darstellung: Gottvater hält Jesus im Arm. Jesus liegt tot in seinen Armen, der Körper ist von der Folter und der Kreuzigung gezeichnet. Gott schaut ihn voller Mitleid an. In der Kunstgeschichte nennt man diese Darstellung den „Gnadenstuhl“. Der Schoß Gottes wird zu einem Ort für Jesus, an dem er ganz von Gottes Liebe getragen ist, selbst als er stirbt. Und wenn ich dieses Bild betrachte, ist es so, als ob der Künstler mir sagen will: Verlass Dich darauf, dass Gott Dich auch so tragen wird, wenn Du seinen Halt und seine Zuneigung brauchst.

Als meine kleine Nichte zu Besuch war, ist sie sofort zu dieser Figur gegangen. Sie war damals drei Jahre alt. Und wie es in diesem Alter so typisch ist, hat sie mich mit Fragen gelöchert: Wer das ist? Was die da machen und wieso und überhaupt.

Mir ist es im ersten Moment richtig schwergefallen, die richtige Antwort zu geben, weil ich dem kleinen Mädchen noch nicht zumuten wollte, dass es erfährt, wie grausam Menschen zu anderen Menschen sein können. Deshalb habe ich ihr nur die Wundmale Jesu gezeigt und ihr gesagt, dass er verletzt ist, dass er aber von seinem Vater gehalten und getröstet wird. Sie hat zuerst zugehört, aber dann ist sie ohne Zögern zu der Figur gegangen, die etwa gleich groß ist wie sie selbst. Und sie hat sie fest in den Arm genommen, Jesus und Gottvater gleich mit.

Mich hat das sehr berührt. Sie hat so menschlich reagiert. Mir ist klar geworden: Was meine kleine Nichte tut, ist das, was ich mir von meinem Glauben erhoffe: Ich will nicht nur darauf vertrauen, dass Gott mich hält, wenn es mir schlecht geht. Es geht noch einen Schritt weiter: Als Christ vertraue ich darauf, dass Gott genauso menschlich handelt und mir nah ist, wenn es mir schlecht geht. Deshalb will ich mich genauso menschlich zeigen und denen nahe sein, die leiden. Und die, die eine schwere Bürde tragen müssen, in den Arm nehmen.

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