SWR2 Wort zum Tag

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18SEP2019
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In meiner Schule haben wir vor kurzem unsere erste multireligiöse Feier veranstaltet. Evangelische, orthodoxe und katholische Christen gemeinsam mit Muslimen. Dabei bin ich zum Nachdenken gekommen, wie schnell ich mit der Kritik bei den anderen bin und dabei die eigenen blinden Flecke übersehen kann.

Die Situation war so: Eine muslimische Schülerin sollte eine Sure aus dem Koran vorlesen. Bei der Sprechprobe habe ich bemerkt, dass sie unsicher ist, an welchem Ort sie in der Kirche dafür stehen soll. Ich habe ihr gesagt, dass sie dafür nach oben vor den Altar soll. Schließlich sei der Koran ja in ihrer Religion das Wort Gottes undgehöre deshalb vor den Altar. Aber schon im nächsten Moment bin ich erschrocken über mich und was ich da gesagt habe. Wo doch jeder weiß, dass im Koran auch Aufrufe zu Gewalt vorkommen und dass die Worte darin viele menschliche Züge haben.

So schnell war sie da, meine Kritik am Islam. Jetzt sagt aber Jesus, dass man mit dem Maß, mit dem man andere misst, selbst auch gemessen werden soll.

Also habe ich mir Gedanken gemacht, wie es denn mit dem Thema Gewalt in der christlichen Bibel aussieht. Und da finde ich leider auch eindeutig gewaltverherrlichende Stellen. Z.B., als Gott Moses und die Israeliten befreit und durchs Rote Meer führt, da lässt er den Pharao und seine Streitmacht ertrinken. Und Jesus zeigt sich auch ziemlich aggressiv gegenüber den Händlern im Tempel, als er sie mit einer Peitsche vertreibt.

Aber bei der Bibel weiß ich, dass ich anders an die Sache herangehen muss. Zum einen trage ich dem Rechnung, dass diese Erzählungen von Menschen und für Menschen geschrieben sind. Sie haben eine menschliche Perspektive und sind durch die Menschen hindurchgegangen, selbst wenn sie direkt von Gott in deren Köpfe und Herzen gelangt sind.  Von der menschlichen Seite aus kann ich verstehen, dass die Israeliten, denen mit Mose die Flucht aus Ägypten gelungen ist, sich freuen, wenn der Pharao mit seiner Armeeuntergeht. Aber ich kann über diese emotionale Sichtweise hinaus auch sehen, dass es dabei um etwas anderes geht: Nämlich darum, dass alle Menschen ein Leben führen können, in dem sie nicht von den Mächtigen abhängig sind, sondern dass es Gottes Wille ist, wenn sich Menschen von Unterdrückern befreien.

Das ist mir alles auch nicht neu. Aber als ich gemerkt habe, wie differenziert ich als Christmit den Texten umgehen kann, die mir heilig sind, ist mir einiges klar geworden: Zum einen, dass genau das auch ein Gewinn für Muslime sein könnte, wenn sie ihre heiligen Texte aus dieser kritischen Perspektive betrachten. Zum anderen aber auch, dass ich den Maßstab, mit dem ich andere kritisiere, auch auf mich selbst anlegen muss, wenn ich den anderen gerecht werden will.

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