Anstöße sonn- und feiertags

Anstöße sonn- und feiertags

In diesem Sommer ist meine Nachbarin gestorben. Mit 96 Jahren. Ein reiches, intensives Leben hat sie gehabt. Nicht immer einfach, und doch habe ich sie kaum jammern hören.

Bei Besuchen hat sie mir aus ihrem Leben erzählt und besonders gerne die ein oder andere Geschichte aus unserer Straße. Wer da was nicht wollte, wer mit wem Streit oder auch eine Liebschaft hatte.

Erzählen. Das konnte sie. Die Augen waren zuletzt ganz schwach. Und das Hören ging auch nicht mehr so gut. So blieb das Erzählen. Ich habe ihr immer sehr gerne zugehört.

Und dann ist sie gestorben. Ihre Nichte war bei ihr und so ist es ihre Nichte, die mir erzählt, wie sie gestorben ist. Das Besondere: Meine Nachbarin konnte schon mehrere Jahre ihre Wohnung höchstens mit sehr viel Hilfe verlassen. Und in der Nacht vor ihrem Tod, steht sie auf und geht ganz alleine eine steile Treppe hinunter bis zur Haustür. Dort findet eine Pflegekraft sie, den Wohnungsschlüssel in der Hand. Keiner konnte sich vorstellen, wie sie das so ganz alleine geschafft hat.

Mich hat das sehr berührt. Ich stelle mir vor, wie meine Nachbarin spürt, dass ihr Leben bald zu Ende sein wird und sie bricht auf. In der Stille und Dunkelheit der Nacht werden Kräfte geweckt, die keiner vermutet. Sie überwindet eine Treppe; eine Grenze, die sie jahrelang an ihre Wohnung gefesselt hat. Sie will raus, bereit, das Vertraute zu verlassen. Vielleicht ahnt sie, dass etwas Neues auf sie wartet.

Als Christin glaube ich daran, dass im Tod eine Grenze überschritten wird. Dass Neues möglich wird, eine neue Lebendigkeit auf mich wartet. Dass mein Leben bei Gott neu geweckt wird. Die vielen Erfahrungen und Geschichten, die das Leben prägen und dem Menschsein Sinn geben, nehme ich mit. Und vielleicht werden sie dann einen ganz neuen, tieferen Sinn bekommen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29383
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