SWR2 Wort zum Tag

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09SEP2019
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Sehen und Gesehen werden. Für viele ist das wie Sport - und zugleich eine tägliche Herausforderung, die schon am Morgen beginnt: Was ziehe ich an? Und hört den lieben langen Tag nicht auf: Wie bewege ich mich? Wie gestikuliere ich? Wie stelle ich mich dar? Sehen und Gesehen werden - und unablässig daran denken: Wie sehen mich Andere?

In der Schule, an der Uni, im Büro bei der Arbeit – unter Freunden. Das kann richtig anstrengend sein. Und manchmal zur Tortur werden. Wie kann ich da rauskommen?

Unlängst hat mich eine pädagogisch gebildete Frau auf eine Spur gebracht. Nach einem Nachmittag mit Jugendlichen. Über 90 sind da aus dem Stadtgebiet aus sieben Kirchengemeinden zum Singen zusammengekommen. In aller Regel ist das eine äußerst unruhige, aufgeregte Geschichte. Hippelig – mit viel Gelächter und Geschrei. Doch dieses Jahr war es so konzentriert und so ruhig wie nie zuvor. Was war anders?

Sonst wurden die Lieder immer an eine Leinwand projiziert. Doch diesmal fehlten Beamer und Laptop. Alle mussten in ein Liederbuch schauen. Aber was macht das schon aus?

Genau das hat mir die weise Frau am nächsten Morgen erklärt, als ich ihr davon erzählt habe. Für sie war das ganz klar: „Die Jugendlichen schauen in ein Buch“ – sagt sie – „jeder und jede für sich. Sie sind sich in dem Moment ziemlich sicher: Das machen die Anderen jetzt auch. So entsteht eine besondere Situation: Ich kann niemanden anschauen – und die anderen mich auch nicht. Da muss ich mich nicht zeigen – produzieren – inszenieren.  -  Das fährt die Aufregung und die Unruhe runter.“ -  Darum also war das Singen so konzentriert wie nie.

Für mich ist diese kleine Szene wie ein Gleichnis für das, wonach sich Jugendliche sehnen: Für sich sein zu können –  frei von vergleichenden und beurteilenden Blicken der Anderen. Manche fassen es trotzig in ein Glaubensbekenntnis: „Gott liebt mich! So wie ich bin. Ihr könnt mich mal. Gott schaut nicht auf das Äußere, „sondern auf das, was im Herzen ist.“

Ich kenne diese Sehnsucht. Und auch mir hilft dieser Glaube - von Jugend an. Das nach Äußerlichkeiten beurteilt werden - tritt zurück, bekommt so eine „himmlische Distanz“. Im Alltag helfen mir Momente – oft schon Augenblicke – in denen ich mir – manchmal mit geschlossenen Augen - das vergegenwärtige: Gott sieht auf das, was im Herzen ist. Da spüre ich Gottes Ja zu mir, so wie ich bin. Das gibt meiner Seele Kraft. Konkurrenz und Vergleich verschwinden nicht. Sie sind weiter irgendwie auch da. Doch sie entscheiden nicht mehr über mein Ansehen. Nicht in letzter Instanz.

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