SWR4 Abendgedanken

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Stark sein will jeder. Weil Stärke uns vor Angriffen schützt. Vermutlich ist das schon rein biologisch in uns angelegt. Aus Verteidigungsgründen. Damit wir nicht von den großen, wilden Tieren gefressen werden. Manche gehen dazu ins Fitnessstudio und machen Krafttraining. Andere versuchen sich durch fernöstliche Meditationspraktiken zu stärken. Und Christen beten um die nötige Stärke, die sie in bestimmten Lebenslagen brauchen; besonders wenn sie merken, dass die eigenen Kräfte nicht ausreichen. Sie hoffen auf eine Kraft „von oben“, die der Geist Gottes schenkt, wenn man darum bittet. Stärke wird als eine der Gaben beschrieben, die er gibt.

Nun macht Jesus aber zu allem, was wir unter Stärke verstehen, verstörende Aussagen:

Er sagt: Die Ersten werden die Letzten sein[1]. Und: Nicht die Gesunden brauchen der Arzt, sondern die Kranken[2]. Und: Wie schwer es für einen Reichen ist, in das Reich Gottes zu gelangen[3]. Jesus kehrt also die normalen Verhältnisse um. Er interessiert sich offensichtlich zuerst und vor allem für die Schwachen und nicht für die Starken.

Wie bringt man das dann damit zusammen, dass eine der Geistesgaben als Stärke beschrieben wird? Es muss sich um eine andere Form der Stärke handeln. Eine, die nichts mit körperlicher oder geistiger Überlegenheit zu tun hat, sondern den Menschen da unterstützt, wo er es braucht. Der Geist Gottes stärkt vor allem dort, wo ein Defizit vorliegt. Das kann bei einer Krebserkrankung sein, wenn der Boden unter den Füßen von einem Tag auf den anderen wackelig wird, und man stark sein will, um nicht zu verzweifeln. Da kann es helfen zu wissen, dass Gott mich nicht fallen lässt, wie auch immer die Prognose ausfällt. Es kann gut tun, dass der Wert meines Lebens und meiner Person nicht geringer wird, weil ich krank bin. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass mir da auf einmal neue Kräfte zugewachsen sind, so dass manch einer sich schon gewundert hat, wie stark ich dabei war. Und ich selbst erst recht.

Ich vermute, es gibt eine Voraussetzung, dass das funktionieren kann: Ich muss bereit sein, mich schwach zu zeigen. Es nützt nichts, mich in jeder Situation mordsmäßig ins Zeug zu legen, um alles aus eigener Kraft zu stemmen. Im Gegenteil: Es ist besser, meine Schwäche akzeptieren. Das ist menschlich. Und es gibt Gott überhaupt eine Chance, an mich heran zu kommen. Dann könnte der schwierige Satz des Apostels Paulus auf einmal eine tiefe Wahrheit erlangen: Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark[4].



[1] Matthäus 20,16

[2] Matthäus 9,12

[3] Markus 10,23

[4] 1 Korintherbrief 12,9

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28835
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