SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Das große Rasenstück“. So heißt ein Aquarell, das Albrecht Dürer vor über 500 Jahren gemalt hat. Auf den ersten Blick sieht man nur ein Stück Wiese. Aber wer genauer hinschaut, entdeckt darin eine Fülle unterschiedlichster Pflanzenarten. Gänseblümchen, Löwenzahn, Schafgarbe und Wegerich. Gräser aller Art. Ein schönes, aber vom Motiv her eigentlich ein triviales Bild!

Darum staune ich über den Titel des Bildes: „Das große Rasenstück“. Denn groß ist dieses Stück Wiese nur für den, der darin mehr sieht, als sich auf den ersten Blick erkennen lässt. Erst dann wird aus dem alltäglichen Wiesenstück ein Ausschnitt vom Wunder der Schöpfung.

Dieses Bild fiel mir ein, als kürzlich eine UN-Studie zur Artenvielfalt veröffentlicht wurde. Mehr als 150 Wissenschaftler aus 50 Ländern beschreiben darin, wie es den Tieren und Pflanzen auf der Erde geht.

Das Ergebnis: Seit es Menschen auf der Erde gibt, sind noch nie so viele Tiere und Pflanzen ausgestorben wie jetzt. Es ereigne sich auf der Erde gerade ein gigantisches Artensterben, vergleichbar dem Tod der Dinosaurier vor etwa 65 Millionen Jahren. "Das für das Leben auf der Erde essenzielle Netz wird immer löchriger", sagt einer der Wissenschaftler.

Und plötzlich finde ich den Titel von Dürers Aquarell „Das große Rasenstück“ gar nicht mehr trivial. Denn er lenkt meinen Blick auf die Grundlage unseres Lebens: die unzähligen Lebewesen – von der Biene bis zum Regenwurm – , für die dieses Stück Wiese ihr Lebensraum ist. Und ohne deren Leben auch menschliches Überleben  gefährdet ist.

Albrecht Dürer schrieb: „Das Leben in der Natur gibt zu erkennen die Wahrheit der Dinge“. Heute liegt die Wahrheit der Dinge meines Erachtens da, wo der Mensch begreift, dass er sich zurücknehmen muss. Dass er Pflanzen und Tieren Raum lassen muss, damit sie sich entfalten können. Und nicht vom menschlichen Expansionsdrang überrollt werden.

Das einzuüben, beginnt im eigenen Vorgarten, wo man statt Rasen- und Kiesflächen anzulegen, Kräuter und Blumen anpflanzt. Und das hat Auswirkung bis hin zur Frage, wie ich mich bewege und wovon ich mich ernähre.

Das Aktuelle an Dürers Aquarell ist, finde ich, dass er uns die Natur aus einer anderen Perspektive betrachten lässt: nämlich von unten. Und uns im winzigen Detail das Ganze zeigt. In der bunten Vielfalt der Gräser und Kräuter die Seele der Welt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28669
weiterlesen...