SWR2 Wort zum Tag

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Vom Journalisten und Schriftsteller Carl von Ossietzky stammt folgendes Zitat: „Wir leben inmitten einer großen Evolution: es kehrt so etwas wie ein europäisches Bewußtsein wieder. Man schämt sich nicht länger, öffentlich auszusprechen, daß die Menschheit weiter reicht als die Fahnen des Landes.“ [1] Heute jährt sich Ossietzkys Todestag. Der Träger des Friedensnobelpreises ist von den Nationalsozialisten früh festgenommen und in verschiedenen Konzentrationslagern interniert worden. Er starb am 4. Mai 1938.

Das Zitat stammt aus einem Artikel, den er im bereits im Juli 1918 veröffentlicht hat. Der Erste Weltkrieg mit all seinen unzähligen Opfern neigt sich dem Ende entgegen. In dieser Zeit spürt der Pazifist Ossietzky, dass sich die geistige Atmosphäre im Land wandelt. „Schüchtern durch die Hintertüre tritt die Menschlichkeit wieder ein“[2], so schreibt er. Hellsichtig erkennt er aber auch: Frieden hängt nicht allein von ein paar Staatsverträgen ab. Es braucht Menschen, die Frieden und Verständigung wollen und sich aktiv dafür einsetzen. Er hofft, dass diese Überzeugung sich in Europa durchsetzen wird. Damals kann er noch nicht ahnen, dass noch ein Zweiter Weltkrieg – ausgehend von Deutschland - Europa heimsuchen wird. Erst nach diesem verheerenderen Krieg beginnt tatsächlich ein tragfähiges europäisches Bewusstsein zu wachsen und wirksam zu werden.

Ossietzky hat diese Zeilen vor über hundert Jahren geschrieben. Wenn ich heute auf Europa blicke, beschleicht mich die Angst, dass sich inmitten des europäischen Bewusstseins gerade wieder eine Evolution vollzieht. Sie weist in die entgegengesetzte Richtung. Denn in ganz Europa werden die Stimmen lauter, für die das Wohl und die Interessen der eigenen Nation an erster Stelle stehen. Sie glauben, dass nur dadurch Frieden und Sicherheit zu gewährleisten ist. Menschlichkeit, die weiter als die eigene Fahne reicht, wird dabei entweder stillschweigend durch die Hintertüre verabschiedet oder lautstark über Bord geworfen. Die europäische Idee beschränkt sich darauf, Europa als eine Festung auszubauen.

Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Sie erhielt den Preis 2012, weil sie sich über Jahrzehnte für Frieden und Versöhnung eingesetzt hat.

Ich habe das Glück zu einer Generation zu gehören, für die der Slogan „Nie wieder Krieg zwischen europäischen Staaten!“ nicht nach einer fernen Utopie klingt, sondern normal ist. Wie Ossietzkys bin ich zutiefst überzeugt: Dieses Gut kann nicht allein durch Staatsverträge gesichert werden. Es hat nur Bestand, wenn es ausreichend Menschen gibt, die sich aktiv für diese europäische Friedensidee einsetzen



 

[1]Carl von Ossietzky, Wandlung der geistigen Atmosphäre in: Monatliche Mitteilung des Deutschen Monistenbundes, Juli 1918. Online abrufbar: https://gutenberg.spiegel.de/buch/ein-lesebuch-fur-unsere-zeit-6370/6
[2]Ebd.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28580
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