SWR3 Gedanken

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Ein Freund hat mich um Rat gefragt. Er hat eine tolle Stelle angeboten bekommen, bei der fast alles gepasst hat: sympathischer Chef, eine reizvolle Aufgabe, ein nettes Team. Nur eine Sache hat ihn gestört: die weite Entfernung. Fast eine dreiviertel Stunde im Auto pro Weg. 

Für die alten Mönche wäre das kein Problem gewesen. Sie haben ihre Wege sogar verlängert, obwohl in so einem Kloster doch alles schön eng beieinander liegt. Die Mönchszelle, die Kirche, der Speisesaal – meistens ist alles in einem Gebäudekomplex untergebracht. Aber genau deshalb haben die alten Mönche den Kreuzgang erfunden. Der liegt meistens im Zentrum eines Klosters. Eine Art quadratisch angelegte überdachte Wandelhalle, in der Mitte meistens ein Gärtchen oder ein Brunnen. 

Wenn ich als Mönch von meiner Zelle in die Kirche möchte, dann muss ich durch den Kreuzgang. Möchte ich von der Kirche in den Speisesaal, muss ich wieder durch den Kreuzgang. Der Kreuzgang war so etwas wie ein künstlich angelegter Pendelweg. 

Als mein Freund davon gehört hat, hat er sich am Kopf gekratzt und gesagt: „Die sind aber schön blöd. Machen sich unnötig das Leben schwer.“ 

Die alten Mönche haben das anders empfunden. Sie haben den Kreuzgang bewusst so angelegt. Denn sie wollten eben nicht hopplahopp vom Studieren zum Beten übergehen oder vom Beten zum Essen. Sondern sie haben den Weg zwischen den Gebäudeteilen genutzt. Sie haben sich von der einen Situation gedanklich verabschieden können, sie noch einmal Revue passieren lassen. Und sich dann auf die neue Aufgabe eingestellt. Sie waren überzeugt, dass man so bewusster leben kann. 

Das Pendeln dazu nutzen, um bewusster zu leben - darauf muss man erst mal kommen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28240
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