Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Alt zu sein, ist kein Spaß. Zumal in einer Gesellschaft, die das Wort „alt“ meidet wie die Pest. Zum einen ist es mehr oder weniger aus unserem Wortschatz verdrängt worden. Zum anderen verbindet man damit fast immer etwas, was man lieber nicht sein will. Das Wort „alt“ hört sich ganz oft wie eine Abwertung an. Mir ist das wieder aufgefallen, als an einem Wohnheim für Alte „Seniorenresidenz“ stand. Dort leben Menschen in ihrem letzten Lebensabschnitt. Sie werden in diesem Haus versorgt und gepflegt, meistens bis zu ihrem Tod. Sie sind alt. Warum darf man das nicht sagen?

Meine Großmutter ist 102 Jahre alt geworden. Sie war bis auf die letzten drei Tage klar im Kopf, und für ihr hohes Alter erstaunlich mobil. Wenn ich sie besucht habe, hat sie sich an alles erinnert, auch an das, was wir beim letzten Mal gesprochen haben. Sie hat sich für mein Leben interessiert und - obwohl sie eine fromme Frau war - vor den Herausforderungen gewarnt, die heutzutage ein Leben als Priester mit sich bringt. Ich habe sie sehr geliebt, meine Oma. Und: Sie war eine alte Frau. Für mich schon immer. Als ich auf die Welt kam, war sie bereits 64 Jahre alt. Sie hat aus ihrem Alter auch keinen Hehl gemacht oder sich dafür geschämt. Sie hatte ein Leben lang hart gearbeitet und gespart. Am Ende ihrer Tage war sie in einem Altenheim. Weder sie noch ich haben das Haus, in dem sie dann gestorben ist, je anders genannt. Es war ein Haus für Alte, in dem Alte lebten. Ein Altenheim. Es war nicht ideal dort, meine Oma wäre auch lieber bis zuletzt in ihrem vertrauten Zuhause geblieben. Aber es war in Ordnung. 

Heute werden viele Menschen bei uns alt. Oft sehr alt. Immer älter. Mir ist klar, dass das Alter auch eine Last sein kann. Wenn einem jeden Tag etwas anders weh tut. Wenn man nicht mehr so kann wie früher. Wenn einem das Aufstehen schwer fällt und man an manchen Tagen einfach nicht mehr will. Es steht jedem zu, das zu spüren und zu sagen. Aber es steht jedem Alten auch zu, dass ich ihn als alten Menschen ernst nehme. Mich für ihn interessiere, für die schönen Seiten, die es im Alter auch gibt: die vielen Erfahrungen, die Lebensweisheit. Die habe ich an meiner Großmutter geliebt. Und ich schätze sie bis heute.

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