SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Eine Gruppe von Walen adoptiert einen Delfin. Ich habe schöne Bilder davon gesehen, wie die großen Meeressäuger den kleinen in ihren Schwarm aufnehmen. Der Delfin schwimmt in der Mitte und alles sieht so aus, als sei das ganz normal. Ist es aber nicht, weil Tiere im Regelfall auch unter ihresgleichen bleiben. Das sind sie gewöhnt, das verspricht Sicherheit und den größtmöglichen Zusammenhalt, um Feinde abzuwehren.  Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass Wale Angehörige fremder Gattungen aufnehmen - wenn sie auf ein Tier stoßen, das krank, verletzt oder allein unterwegs ist. Dann integrieren sie es einfach und irgendwie selbstverständlich in ihren Verband. Sie passen sich seiner Geschwindigkeit an, sorgen dafür, dass es genügend zu essen hat und beschützen es vor den Gefahren, die im Meer auf ein schwächeres Tier lauern. 

Was Tiere können, können Menschen erst recht. Wenn sie nur wollen. Ich merke jedenfalls, wie sehr mich dieses Bild von dem Delfin berührt, um den die Wale sich kümmern. Und wie sehr ich mir wünsche, dass ich solche Bilder auch unter uns Menschen finde. Häufiger und unübersehbar. Ich weiß, dass es dazu immer zwei braucht. Den einen, der hilft, und den anderen, der die Hilfe angemessen annimmt. Ich weiß auch, dass Hilfsbereitschaft missbraucht werden kann und manche keine Hilfe verdienen. Aber ich kann mich trotzdem der Tatsache nicht entziehen, dass der Mensch gerade und erst hier zu seiner eigentlichen Bestimmung kommt, die seinem Wesen entspricht. Wenn er sich nicht nur von seinen Trieben und Instinkten leiten lässt, sondern ganz uneigennützig helfen kann. Ich halte das für eines der Wesensmerkmale, die Gott in uns angelegt hat und von denen er wollte, dass wir sie so gut wie nur irgend möglich zur Entfaltung bringen: Die Schwäche eines anderen zu sehen und sie eben nicht auszunützen zum eigenen Vorteil.

Ich sehe die Wale und den Delfin und weiß, was ich tun muss: Mich öffnen für einen Fremden, für einen, der anders ist als ich. Ihm meinen Schutz anbieten, wenn er ihn braucht und anzunehmen bereit ist. Meine Möglichkeiten so zu nützen, dass andere auch etwas davon haben. Bestenfalls steckt das auch andere an. Wie mich die Wale.

 

Thomas Steiger aus Tübingen von der Katholischen Kirche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27947
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