SWR4 Sonntagsgedanken

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Nehmen ist seliger als Geben. Schon mal gehört? Ja, sagen Sie vielleicht, so verhalten sich viele. Die nehmen, was sie kriegen können. Aber schön ist das nicht. Schon gar nicht so kurz vor Weihnachten. Gerade da denkt man doch eher ans Schenken und sagt dazu: Geben ist seliger als nehmen. Anderen etwas schenken, das macht einem ja auch selber Freude.

Aber Nehmen ist seliger als Geben, das steht jedenfalls auch in der Bibel. Der Apostel Paulus hat das in einem Brief an die erste christliche Gemeinde in Rom geschrieben. In der Bibel kann man das nachlesen (Rö 15,7). Paulus denkt dabei allerdings nicht an Weihnachtsgeschenke. Er denkt an andere Menschen. Ich glaube, er meint: Wer andere annimmt, macht ihnen das größte Geschenk.

Paulus schreibt über Menschen, die sich im Alltag begegnen. Und er sagt: Nehmt jeden und jeden so an, wie er ist. So hat Jesus das auch gemacht. Das soll Euer Vorbild sein.

Ja, denke ich und: Das ist aber richtig schwer. Wenn ich aus meinem Büro auf die Straße schaue, dann sehe ich jeden Tag auf eine Bushaltestelle und auf einen Grünstreifen. Eine Frau an der Bushaltestelle trägt einen Pelzmantel. Ein junger Mann führt seinen Hund Gassi und zerrt an der Leine. Ein Punker spuckt auf den Gehweg. Ich sehe immer wieder Menschen, bei denen mir der Gedanke schwer fällt: Den nehme ich an, wie er ist.

Dafür müsste ich nämlich zuerst einmal den anderen ansehen, ohne ihn zu bewerten. Und dann braucht es auch Interesse am Gegenüber. An der Frau mit dem Pelz. Die könnte ich fragen: Warum tragen Sie noch Pelzmäntel? Den Punker könnte ich fragen: Was stört Dich an der Gesellschaft, dass Du anders sein willst? So könnte das klappen, den anderen anzunehmen. Interesse haben. Sich die Geschichten anhören, die der andere erzählt. Die Geduld mitbringen und signalisieren: Hier darfst Du offen sprechen. Hier darfst Du Du sein.

Ich frage mich das ja auch manchmal: Was sehen diese Menschen, wenn sie mich ansehen? Glatze, Brille, schiefe Zähne? Das fände ich ziemlich schlimm. Und ziemlich oberflächlich. Ich wünsche mir ja auch, dass man mich kennenlernt. Dass die Leute hinter die Oberfläche schauen und ich meine Geschichten und Gedanken erzählen kann. Weil das gut tut. Weil mich das ermutigt, so zu sein, wie ich bin.

Ich habe erlebt, wie das sein kann. Vor zwei Jahren habe ich an einem Friedensgebet teilgenommen. Wir standen unter einem Kreuz vor einer Kirche. Wir waren nur 6 Personen. Wir haben immer gehofft, dass noch andere kommen. Plötzlich kam ein Mann auf uns zu. Er hat eine vergilbte Armeejacke getragen. Er hat ziemlich streng gerochen. Er hat sich in unseren Kreis gestellt, aber mit uns gefremdelt. Wir haben uns angeschaut und uns mit Blicken gefragt: Was mag er wollen?

An einer Stelle im Friedensgebet durfte jeder laut Gedanken äußern. Da hat der Mann erzählt: Mein Vater hat damals dieses Kreuz gebaut. Er hat es nach dem Krieg aufgestellt. Als Zeichen, dass Gott stärker ist, als das, was die Menschen kaputt macht. Und ich danke Gott, dass ich die Kraft habe, trocken zu sein. Und ich danke Euch, dass ich mich zu Euch stellen durfte. Mit diesen Worten ist er gegangen. Ich weiß nichts weiter über ihn. Nur, dass er froh war, weil er anscheinend gemerkt hat: Hier bin ich angenommen.

„Nehmt einander an, wie Jesus Euch angenommen hat“ (Röm 15,7).  Paulus hat diesen Gedanken mit Jesus verbunden.

Für Paulus war klar: Jesus hat auf der Welt so gelebt, wie Gott es sich wünscht. Und Paulus hat sich gewünscht, dass das fortgesetzt wird. Deshalb hat er den Menschen erklärt, wie das geht. Eben: Einander annehmen. Ich finde: Das hat mit Advent ganz buchstäblich zu tun. Advent heißt übersetzt Ankunft. Und das heißt ja nicht nur, dass Weihnachten ankommt. Ankommen möchte auch jeder einzelne Mensch, der einem begegnet. Ankommen und angenommen werden. 

Wenn ich dann an den Mann denke, den ich beim Friedensgebet getroffen habe, dann merke ich: Jemanden anzunehmen, wie er oder sie ist, ist das größte Geschenk. Der Mann hat den Mut gefunden, seine Geschichte mit uns zu teilen. Und wir, die so ganz anders leben als er, waren ihm dafür die richtige Gruppe. Bei uns hat er sich wohl gefühlt. Wie gut, dass wir nicht von ihm abgerückt waren!

Ich glaube, das kann man üben. Mir hilft es, wenn ich mich immer mal wieder frage: Wie sehen mich die Menschen, wenn ich auf sie zukomme? Das verändert meinen Blick auf andere. Dann ist es gar nicht mehr so schwer, andere anzunehmen. Ich glaube, dass das wirklich das schönste Weihnachtsgeschenk ist: Jemanden annehmen, so wie er ist. In diesem Sinne ist Nehmen seliger als Geben.

Ihnen allen einen gesegneten 3. Advent und eine gute Woche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27747
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