SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Der Mystiker Johannes vom Kreuz hat ein Gedicht geschrieben, in dem er sagt: „In dunkler Nacht wollen wir ziehen und die Quelle suchen. Nur der Durst wird uns leuchten.“

Zur Zeit gibt mir dieses Gedicht viel Zuversicht, weil ich manchmal nicht mehr weiß, wie ich angesichts des Missbrauchsskandals noch katholisch bleiben kann: „In dunkler Nacht wollen wir ziehen“. Wenn ich mitbekomme, was da alles an Kindern verbrochen wurde und wie die Täter noch geschützt wurden, könnte ich verzweifeln.  Auch dafür steht für mich diese Nacht im Gedicht.

Als Jugendlicher war ich richtig stolz, dass ich katholisch bin. Durch den Missbrauchsskandal fällt mir das heute sehr schwer. Und noch schwieriger finde ich es, wenn ich die jungen Leute im Religionsunterricht vor mir sehe. Sie haben diesen Durst, den Johannes vom Kreuz beschreibt: Sie suchen nach einer Orientierung, die Freude auf Leben macht und Mut schenkt, wenn sie Krisen durchleben müssen. Sie fragen nach Gott, sie lassen sich auch von der Botschaft Jesu anstecken. Und natürlich haben sie auch ihre Kritik an der Kirche. Bisher konnte ich mich immer den kritischen Fragen stellen. Aber im Augenblick ist das nicht mehr so einfach. Es ist wirklich so, als ob wir gerade durch eine finstere Nacht ziehen.

Aber die Jugendlichen, die ich jeden Tag treffe, zeigen mir mit ihren Fragen auch, dass sie trotz allem auf der Suche sind, nach dem, was Kraft und Leben spendet. Und das bin ich auch immer noch. Sie und ich, wir suchen, wie es im Gedicht heißt, „die Quelle“ – trotz und gegen den Missbrauchsskandal.

Das alles verändert noch nichts zum Besseren und bringt keine Lösung. Aber das Tröstende bei Johannes vom Kreuz ist, dass er auch einen Wegweiser nennt, nämlich die Sehnsucht. Sie zeigt die Richtung an, wo es hingehen muss, zu einem Ziel, wo alle Menschen Heil und Hoffnung finden. Im Gedicht heißt das: „Nur der Durst wird uns leuchten“.

Das alles, aber auch ein Funke Trost ist mir bei einem Gottesdienst bewusst geworden -  mit einer feierlichen Prozession: Voraus die Ministranten mit dem Kreuz, hinter ihnen der Priester und die Gläubigen. Das Bild hat mich sehr berührt. Es hat mich traurig gemacht und gleichzeitig getröstet. Denn es steht für das, was mein Christsein ausmacht: Gemeinsam mit anderen bin ich auf einem Weg und wir folgen Jesus nach. Traurig ist es, wenn auf diesem Weg solche Skandale das Eigentliche so verdunkeln, dass ich es fast nicht mehr sehen kann. Und dass dabei das Leben von Menschen zerstört wird, die mit auf diesem Weg sein könnten. Dafür gibt es keinen Ausgleich.

Trotzdem habe ich gemerkt, dass ich diesen Weg hinter dem Kreuz nicht verlassen möchte. Weil mich das tröstet. Es geht mir um den, der voraus geht. Und das ist einer, der Leiden kennt. Mit ihm und mit den anderen habe ich diesen Durst gemeinsam: Den Durst nach Leben und Heil.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27726
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