SWR4 Abendgedanken

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An meiner Schule gibt es muslimische Mädchen, die Kopftuch tragen. Wenn ich das sehe, denke ich mir, dass sie ein Kopftuch tragen, weil sie es müssen. Obwohl ich gar nicht weiß, ob das stimmt. Wenn ich sie danach frage, sagen sie immer „Nein“. Entweder, weil sie es wirklich aus innerer Überzeugung tun oder weil sie es nach außen nicht zugeben dürfen, dass ihre Familie sie dazu zwingt. Das bringt mich nicht weiter. Offensichtlich bin ich schnell bereit zu vermuten, dass Mädchen und Frauen im Islam nicht selbst bestimmen dürfen. Allerdings hat es auch in der Geschichte des Christentums eine lange Zeit gegeben, wo ein Mädchen von vorneherein schlechte Karten hatte, wenn es sein Leben selbst bestimmen wollte. Viele hat man gegen ihren Willen ins Kloster gesteckt. Und dass eine Frau heiraten darf, wen sie möchte, ist bei uns auch noch nicht so lange normal.

Dabei hat es in der Geschichte immer wieder Frauen gegeben, die wahre Lichtgestalten sind für dieses Thema. Eine davon ist die Heilige Luzia, an die viele Christen heute denken. Vor allem in Schweden und Italien, wo sie in manchen Gegenden so wichtig wie das Christkind ist.

Luzia hat in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts auf Sizilien gelebt. Als man sie in eine Ehe zwingen wollte, hat sie sich verweigert. Sie hat ihren Ehemann nicht akzeptieren wollen, weil er kein Christ war. Der zurückgewiesene Bräutigam hat sie daraufhin angeklagt und wollte sie an ein Bordell verkaufen. Das hat auch nicht funktioniert, da hat man sie hingerichtet und ihr vorher noch die Augen ausgerissen. So hat sie zwar das Augenlicht verloren, aber nicht ihre innere Freiheit.

Für viele ist Luzia ein Vorbild, weil sie zu ihrem Glauben steht. Das allein ist schon viel. Aber für mich geht es dabei nicht nur um den christlichen Glauben. Als Christin ist sie ja keine Sklavin Jesu, sondern mit ihm in Freundschaft verbunden. Und Freundschaft ist nichts Erzwungenes. Freunde mögen sich und sorgen füreinander in Freiheit. Ich will mir nicht mehr vorstellen, dass jemand Christ ist, aber nicht selbst über sein Leben bestimmen kann. Das Licht des Glaubens, das Luzia trägt, ist eben auch das Licht der Freiheit.

Als Christ orientiere ich mich an dieser Freiheit. Dazu gehört, dass ich diese Freiheit auch den anderen zugestehe, die anders glauben und anders leben. Das muss ich akzeptieren. Und dann kann ich im nächsten Schritt versuchen, die anderen zu überzeugen, wenn ich mit ihnen rede. Ich bin überzeugt, dass die Idee der Freiheit ansteckend wirkt. Also muss ich darüber mit meinen muslimischen Schülerinnen reden. Wenn sie ihr Kopftuch aus Freiheit tragen, gut. Wenn nicht, dann lernen sie wenigstens die Idee kennen, dass jeder Mensch sein Leben selbst bestimmen kann und werden/können es vielleicht bei ihren Töchtern einmal anders machen.

Wir Christen haben ja auch lange für diesen Weg in die Freiheit gebraucht und sind noch nicht am Ende angekommen. Aber es ist kein Weg durch die Dunkelheit. Frauen wie Luzia erleuchten ihn mit ihrem Licht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27725
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