SWR2 Wort zum Tag

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Manchmal erreicht man mit einer ganz einfachen Geste mehr als mit langen Ermahnungen und Vorhaltungen. Das weiß ich sehr genau aus eigener Erfahrung. Es ist schon über 25 Jahre her und trotzdem ist die Erinnerung daran ganz frisch.

Es war während meiner Studienzeit. Ich saß im Zug auf der Heimfahrt von Berlin nach Heidelberg und war unglaublich müde. Eine Woche lang war ich zu Besuch bei Freunden gewesen und wir hatten die Nacht zum Tag gemacht. Also habe ich kurzerhand meine Füße auf die gegenüberliegende Sitzbank gelegt. Ohne die Schuhe auszuziehen. Ich war ja schließlich allein im Abteil.

Gerade war ich am Einschlafen, da ist der Schaffner gekommen und hat mich aufgefordert, die Füße von der Sitzbank zu nehmen, was ich auch getan habe. Nachdem er weg war, habe ich sie wieder hochgelegt und schlief ein. Und so ist es noch zweimal gegangen. Ziemlich rüpelhaft von mir.

Nach einigen Stunden Schlaf wache ich einigermaßen erholt auf. Mein Blick fällt auf meine Füße, und ich sehe, Jemand hat ein paar Papierhandtücher unter die Schuhe gelegt. Da habe ich mich in Grund und Boden geschämt.

Mit seiner ganz einfachen Geste, die großmütig und demütig zugleich war, hat dieser Schaffner mehr bei mir bewirkt hat als jede noch so richtige Zurechtweisung oder Vorhaltung über das richtige Fahrgastverhalten im Zug. Seine stille Geste war in diesem Moment viel wirkungsvoller und nachhaltiger als alles andere.

Ich weiß nicht, ob er Christ war. Aber für mich hat der Schaffner im Zug, in der Begegnung mit mir, genau jene Sanftmut gezeigt, von der Jesus gesprochen hat. Eine Sanftmut, die den anderen kritisiert bei dem, was er tut, was er lässt. Aber in Liebe, ohne viele Worte. Eine milde Beschämung ist manchmal der beste Weg „zur Besserung“.

Wenn ich es genau bedenke, habe ich damals ein Stück gelebter Bergpredigt im Alltag erfahren. Nächstenliebe, die Fehlverhalten nicht zudeckt. Sondern kreativ und überraschend dagegen interveniert. Ohne viel Aufhebens, respektvoll und dennoch klar und deutlich in der Aussage. Jesus sagt in der Bergpredigt: Wenn Dich eine auf die rechte Backe schlägt, so halte ihm die linke dar.

In diesem Sinne hat mir der Schaffner mein rüpelhaftes Verhalten vorgehalten. Für mich ist er ein Vorbild. Gerade in Zeiten wie heute, in denen es üblich geworden ist, oft schon bei kleinen Dingen, andere zu beleidigen und zu beschimpfen, um seine Sache einzufordern.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27651
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