SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ich sitze im Wartezimmer beim Röntgenarzt. Meine Untersuchung ist fertig. Ich warte nur noch auf das Ergebnis. Wie viele andere, die auch hier sitzen. Alle sind etwas angespannt. Unter den Wartenden ist ein älteres Paar; so um die achtzig werden die beiden sein. Der Mann wird aufgerufen und verschwindet mit dem Arzt im Sprechzimmer. Die Frau senkt den Kopf und richtet den Blick auf ihre Füße. So verharrt sie, solange er weg ist. Ihre Anspannung ist bis zu mir herüber zu spüren. Nach einer Weile erscheint ihr Mann wieder im Türrahmen und bleibt dort stehen. Seine Frau richtet sich auf; ihre Blicke begegnen sich für ein paar Augenblicke. Dann richtet er den Daumen nach oben, setzt sich neben sie. Die beiden umarmen einander. Zärtlich und lang. Und bei beiden beginnen die Tränen zu fließen. Das ist eine so schöne, innige Szene, dass auch mir Tränen in die Augen steigen; verbunden mit einem Lächeln, weil das Glück der beiden so spürbar und groß ist. „Wie schön!“, flüstere ich und habe alles verstanden. Später erzählen sie mir: Er hat einen Hirntumor. Jede Kontrolluntersuchung ist eine enorme Belastung. Diesmal ist der Tumor nicht weiter gewachsen. Beide sind unvorstellbar erleichtert.

Die Szene mit den beiden hat sich mir tief eingeprägt. Ich lese an ihr zwei Glücksmomente ab, die ich für wertvoll halte; und von denen ich hoffe, dass viele sie in ihrem Leben nicht übersehen, wenn es soweit ist.

Zuerst. Die beiden alten Leute zeigen ihre Gefühle, verbergen sie nicht vor sich und auch nicht vor anderen. Es tut gut, aus sich herauszulassen, was man empfindet. Auf dem Paar wird ein enormer Druck gelastet haben. Ob nun wieder schwierige Wochen der Therapie kommen oder ob es zumindest für die nächste Zeit ein Aufatmen gibt? Ob der Tod ein Stück näher gerückt ist und ihnen womöglich nur noch eine kurze gemeinsame Zeit bleibt? Wer unter so einem Druck steht, tut gut daran, das Ventil zu nützen, das unsere Gefühle uns anbieten. Das reinigt und schenkt neue Luft zum Durchatmen.

Und dann: Freud und Leid gehen zu zweit besser. Bestimmt haben die beiden in ihrem Leben als Paar auch schwierige Zeiten gehabt. Aber jetzt, im entscheidenden Moment, sind sie füreinander da. Sich ganz nah. Sie können sich aufeinander verlassen. Sie begleiten den anderen, lassen ihn nicht allein in einer schweren Lage.

Es wird viel über Partnerschaft geredet. Junge Menschen tun sich oft schwer damit, sich an einen anderen zu binden. Und Krankheit, zumal Krebs, bedeutet für viele eine große Not. Zu sehen, wie die beiden da im Wartezimmer füreinander da sind, war ein Zeichen von großem Glück und hat auch mich glücklich gemacht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27540
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