SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Als ich nach dem Brückeneinsturz in Genua die Bilder von einer Familie gesehen habe, die dabei ums Leben gekommen ist, war ich sofort von tiefem Mitgefühl ergriffen. Ich sehe den Vater, die Mutter und ihr Kind, denke an die trauernden Großeltern und Freunde und das Glück, das sie alle jetzt nicht mehr haben. Und ich bin tief berührt, obwohl ich diese Menschen gar nicht kenne.

Eigenartig finde ich, dass ich weniger mitfühle, wenn die Anzahl der Opfer zu groß wird. Wenn ich zum Beispiel von den fast 70 Millionen Menschen lese, die weltweit auf der Flucht sind.

Auf der einen Seite ist es ja verständlich, dass ich da nicht mit jedem Einzelnen Mitleid haben kann. Dazu hätte ich die psychische Kraft gar nicht. Dass ich da nicht an jeden einzelnen Menschen denken kann, schützt mich davor, dass ich nicht in Trauer versinke.

Aber den Opfern dieser Katastrophen wird das nicht gerecht. Denn die Leute auf der Flucht sehen sich ja nicht als Masse, sondern als einzelne Person, die mit ihren nächsten Angehörigen nichts anderes sucht, als  glücklich und gesund zu sein.

Für mich ist mitzufühlen etwas, was mich als Mensch auszeichnet und mir eine hohe Würde verleiht. Denn ich bin überzeugt, dass ich dabei ein bisschen was von dem umsetze, was Gott auch tut. Ich habe doch die Vorstellung, dass Gott uns Menschen nicht als Masse sieht, sondern jeden einzelnen von uns kennt und liebt. Und dass er das Glück und das Heil jedes einzelnen will. Und wenn ich als sein Abbild gedacht bin, kann ich doch versuchen, ihm nachzueifern, indem ich mit anderen mitfühle. Und sie als einzelne sehe mit ihrer Sehnsucht nach einem glücklichen Leben. 

Wenn ich also von den vielen Menschen lese, die momentan auf dieser Erde auf der Flucht sind, versuche ich, mein Mitgefühl zu trainieren. Manchmal gibt es ja Berichte über Einzelschicksale. Aber wenn es die nicht gibt, dann nutze ich meine Phantasie und stelle mir stellvertretend für die vielen einen einzigen Menschen vor und versetze mich in ihn hinein. Zum Beispiel eine junge Frau, die aus Uganda vor Krieg und Vergewaltigung flieht und ihr Glück versucht. Auch wenn sie nicht weiß, ob sie es je erreichen wird. Aber so versuche ich Anteil zu nehmen am Schicksal eines anderen Menschen. Stellvertretend für die vielen. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27152
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