SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Oft sehe ich sie zuerst nur aus dem Augenwinkel und denke, dass da irgendwas seltsam ist. Wenn ich dann genauer hinschaue, sehe ich einen Mann mit Dreitagebart, Kleid und Stöckelschuhen und kann das Geschlecht nicht zuordnen. Das passiert mir in der Stadt immer öfter. Die Wissenschaftler sagen schon lange, dass es da so etwas wie ein drittes Geschlecht gibt. Mich überfordert das manchmal. Das merke ich schon daran, dass ich dann nicht weiß, ob ich „er“ oder „sie“ sagen soll.

Manchmal hätte ich da gerne so jemanden wie Hildegard von Bingen als Ratgeberin. Im Heiligenkalender wird heute an sie erinnert. Und ich wäre zu neugierig, was sie zu unserer Welt sagen würde, wenn sie aus dem Mittelalter zu uns kommen könnte.

Sie hat sich als Frau so ziemlich über alle gesellschaftlichen Grenzen ihrer Zeit hinweggesetzt. Sie wollte einfach die Welt verstehen. Deshalb hat sie wissenschaftliche Bücher geschrieben, was für Frauen damals schlichtweg undenkbar war. Und schon gleich bei Themen, die voll und ganz Männer- bzw. Priesterdomäne waren, nämlich Philosophie und Theologie.

Dabei hat sie eine Vorstellung vom Menschen entwickelt, die in Bezug auf das Verhältnis von Mann und Frau revolutionär war. Obwohl sie überhaupt nicht im Widerspruch zur Bibel steht. Anders als die Leute zu ihrer Zeit denken, ist bei ihr die Frau eben nicht eine Art Mängelwesen und dem Mann untergeordnet. Für Hildegard sind Mann und Frau durch die Schöpfung gleichgestellt und ergänzen sich gegenseitig. Sie sind aufeinander angewiesen.

Wenn Hildegard einem Cross-Dresser begegnet wäre – ich glaube kaum, dass sie zurückgeschreckt wäre. Dazu war sie viel zu wissbegierig. Vielleicht hätte sie darin sogar umso mehr einen Fingerzeig gesehen, dass Gottes Schöpfung eben doch vielfältiger und größer ist als der menschliche Verstand es fassen  möchte.

Klar, das ist Spekulation und vielleicht auch mein Wunschdenken. Aber in einem bin ich mir sicher: Sie hätte diese offenen Fragen nicht ausgenutzt, um  sich überlegen zu fühlen oder jemanden zu diskriminieren. Dazu hatte sie einfach zu viel Respekt vor jedem einzelnen Menschen. Vermutlich war das für sie sogar maßgeblich für das, was den Menschen zu einem Abbild Gottes macht: Nämlich nicht, dass er Mann oder Frau ist, sondern dass er offen für ein andersartiges Gegenüber ist. Und das beinhaltet auch das, was ich nicht verstehe. Und dass ich das, was ich nicht verstehe, nicht bekämpfe oder ablehne, sondern ihm mit Liebe und Respekt begegne. Aber nur so gehe ich das Wagnis ein, Gottes Schöpfung zu versehen: Die Welt - so wie sie wirklich ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27150
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