SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Papa, ich guck mal in meinem Kopf

Meine Tochter hat was Tolles gesagt. Sie hat dieses Jahr lesen gelernt und ich hab sie gefragt, was da steht. Sie hat es buchstabiert, aber den Sinn nicht erfasst. Und dann kam‘s: Warte, Papa, ich guck mal in meinem Kopf. Klasse, oder? Ich steig mal kurz in meinen Kopf rein und guck nach, was die Buchstaben bedeuten. Sie hat das Prinzip erfasst: Buchstaben müssen durch mich durchwandern, damit ich ihren Sinn verstehe. Das ist wie mit Weintrauben: Sie nur zu lesen, reicht nicht. Sie müssen gekeltert werden, bevor sie zu Wein werden, den man genießen kann. Und dieses Prinzip gilt auch sonst im Leben: Wenn ich was erlebe, ist das schön. Aber erst, wenn ich es noch mal gedanklich herhole, mir die Bilder vorstelle und darüber nachdenke, kann ich eine Essenz herauskeltern, von der vielleicht etwas bleibt. So werden Erlebnisse zu Erfahrungen, von denen ich später zehren kann. Das aber braucht Zeit. Und die muss ich mir nehmen!

In der klösterlichen Tradition weiß man das schon lange. In St. Peter im Schwarzwald zum Beispiel spiegelt sich das in der Architektur. Wer in dem früheren Benediktinerkloster zwischen Kirche und Küche, zwischen Zelle und Bibliothek unterwegs ist, muss durch lange Gänge gehen. Und das braucht Zeit; es geht nicht anders. Diese Übergänge helfen dabei, die Seele nachkommen zu lassen: Ich kann mich von einer Sache auf die nächste einstellen. Ich kann mich sortieren und aus dem, was ich gerade getan und erlebt habe, herausfiltern, was ich behalten möchte. Oder es einfach nur gut abschließen.

Aber die Gänge und Räume in St. Peter können noch mehr. In einem der Flure hängen zum Beispiel Porträts von den Äbten, die früher das Haus geleitet und das Klosterleben gestaltet haben. Zwei von ihnen fehlen aber: die beiden Äbte, die das Kloster fast ruiniert hätten. Die Benediktiner hatten schon immer ein gutes Gespür für das rechte Maß. Wer das nicht gefunden hat, wurde nicht in die Galerie aufgenommen. Schaue ich mir heute die Bilder an, dann machen sie mich nachdenklich: Woran nehme ich eigentlich Maß? Und wie gehe ich mit dem um, was mir anvertraut ist?

Als ich in St. Peter vor den Porträts gestanden bin, ist mir einiges durch den Kopf gegangen. Ich habe mich gefragt, welche Schätze mir anvertraut sind, nicht nur finanziell. Es gibt Menschen, die ich liebe und für die ich da sein will. Schnell ist mir klar geworden, dass das rechte Maß auch mit ihnen zu tun hat: Ich habe wieder mal gemerkt, dass ich mir oft zu wenig Zeit für sie nehme, weil ich mehr arbeite, als ich eigentlich sollte. Und das gilt auch für mich selber: ich gestehe mir oft nur wenig Zeit zu, um das zu tun, was mir Spaß macht und gut tut. Daran sollte ich etwas ändern. Ich war erstaunt, was die Bilder der alten Äbte auslösen können – gerade die, die gar nicht da sind!

Die Buchstaben des Lebens keltern

Meine Tochter hat mich neulich etwas ausgebremst. Ich habe sie gefragt, was da geschrieben steht. Sie hat erst lesen gelernt und geantwortet: Warte, Papa, ich guck mal in meinem Kopf. Sie hat kurz nachdenken wollen und dabei eingefordert, was generell im Leben wichtig ist: sich immer wieder mal Zeit zu nehmen, um sich zu sortieren. In meinen Sonntagsgedanken habe ich eben davon erzählt, wie die Benediktiner vom Kloster St. Peter bei Freiburg früher damit umgegangen sind. Sie haben das Kloster so angelegt und gestaltet, dass es Besucher wie mich bis heute einlädt, einfach mal langsam zu machen, die Seele nachkommen zu lassen und ein wenig nachzudenken.

Darüber zum Beispiel, wie ich es mit Jesus halte. Zum Kloster gehört ein Fürstensaal, in dem früher Politiker empfangen wurden. Das Deckengemälde zeigt Jesus und ein paar Leute. Die meisten sind blass gemalt, Jesus hingegen kräftig – und nicht nur Jesus, sondern auch ein Sünder. Die Farbe verbindet die beiden miteinander. Das Gemälde will zeigen, dass Jesus der Einzige ist, der sich mit dem Sünder abgibt, dass es eine Verbindung zwischen ihnen gibt. In dem Raum gibt es auch Spiegel. Sie stehen auf dem Boden und zeigen das Deckengemälde. Wenn ich da reinschaue, schlupfe ich quasi ins Gemälde hinein. Ich sehe mein Spiegelbild bei Jesus stehen und frage mich, wie das mit mir ist: ob ich einer von denen bin, die in der Menge verblassen, oder ob ich mich wie Jesus für andere einsetze und etwas für die Gesellschaft tue, in der ich lebe.

Kann ich als Einzelner die Welt verändern? Die Mönche von St. Peter haben – wenn man das so verstehen will – auch in diese Richtung gedacht: Im Altarraum der Kirche sind Engelfiguren angebracht, die singen und musizieren. Wenn die Mönche morgens in aller Frühe gebetet und halb verschlafen gesungen haben, konnten sie diese Engel sehen. Und ihnen sollte klar werden: auch wenn mein eigener Gesang nicht perfekt ist, so wird er doch mitgetragen von dem der Engel. Ich denke, das gilt für vieles im Leben: Wenn ich das mache, was ich kann, und dabei mein Bestes gebe, ist das genug. Es ergänzt sich mit dem, was andere tun. Und dadurch kann sich die Welt durchaus verändern.

Es lohnt sich, ab und an zu entschleunigen und nachzudenken über mich und mein Leben. Wenn ich das, was ich erlebe und was mich beschäftigt, in Ruhe durch mich hindurchwandern lasse, kann ich es sozusagen keltern, eine Essenz herausfiltern, von der ich dann auch später noch etwas habe. Wenn ich über mich nachdenke, kann ich mir klarer darüber werden, was ich will, wofür ich stehe und wer ich bin. Und das beeinflusst im besten Fall, was ich tue. Das kann ich an Orten wie St. Peter tun und mich vom Geist des Hauses inspirieren lassen. Oft reicht es aber schon, aufmerksam zu sein und einfach mal zwischendurch – wie das meine Tochter gesagt hat – in meinem Kopf zu gucken, was die Buchstaben eigentlich bedeuten, die mein Leben so schreibt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27132
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