SWR4 Sonntagsgedanken

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A real Man


Es gibt da ein interessantes Teamspiel. Vier Leute stellen sich vier anderen gegenüber und strecken ihre Zeigefinger aus. Sie verzahnen die Finger so wie bei einem Reißverschluss. Dadurch entsteht eine Art Zeigefingerstraße, auf die der Spielleiter dann einen ausgeklappten Zollstock legt. Dann bekommt das Team die Aufgabe, den Zollstock auf dem Boden abzulegen. Einzige Bedingung: alle Finger bleiben am Holz.Ich hab das erst nicht geglaubt, aber dieses Spiel kann echt lange dauern. Acht Leute brauchen dafür schon mal zehn Minuten Zeit! Ohne Absprachen geht das nicht. Das Team muss sich überlegen und darauf einigen, wie es vorgehen will. Schließlich muss jeder seine Finger am Holz lassen und das ist gar nicht so einfach. Das geht nur, wenn die Teammitglieder auch auf diejenigen achten, die sich mit der Übung schwer tun: weil Knie oder Rücken schmerzen und sie deshalb nicht in die Hocke gehen können oder weil sie vielleicht die Finger nicht ruhig genug halten. Die Gruppe muss offen darüber sprechen, was zu tun ist, sich dem Tempo der Langsameren anpassen und Rücksicht auf sie nehmen. Nur dann klappt das.

Wenn ich dieses Teamspiel anleite, dann nehme ich dafür nicht irgendeinen Zollstock. Ich habe einen besonderen: den „Maßstab Mensch“. Das steht auch auf diesem Zollstock drauf. Ich finde, dieser „Maßstab Mensch“ passt zu dem Spiel besonders gut, da es ja darum geht, am anderen Menschen Maß zu nehmen. Das Spiel ausgerechnet mit diesem Zollstock zu spielen, macht die Leute oft nachdenklich. Sie tauschen sich darüber aus, wie sie mit einander umgehen, woran sie andere Menschen messen und woran sie selber gemessen werden wollen.

Ich sage dann meistens auch noch etwas zu dem Wort „Mensch“. Dieses Wort ist vom Deutschen ins Jiddische gewandert und von da ins Englische. Und in allen drei Sprachen heißt es gleich, nämlich „Mensch“. Wenn man im Jiddischen „wirklicher Mensch“ sagt oder im Englischen „a real Mensch“, dann heißt das so viel wie „eine Seele von Mensch“. So ein „wirklicher Mensch“ ist besonders aufrichtig und vertrauenswürdig. Er ist tapfer und anständig. Er ist authentisch und tut das Richtige, weil er auf andere achtet. Er respektiert sie, nimmt Rücksicht auf sie und schert sich nicht darum, ob sie hübsch oder hässlich, reich oder arm, mächtig oder hilflos sind. Ihm geht es um den Kern des anderen, um sein Wesen. „A real Mensch“ weiß, dass alles, was er tut, Folgen hat. Daher handelt er umsichtig; zuhause, draußen und bei der Arbeit. Und wenn er mal was falsch macht, dann gibt er das zu. Schließlich muss er keine äußere Fassade wahren.

„Maßstab Mensch“. Mit diesem Zollstock kann man tolle Spiele machen. Aber auch so richtig in die Tiefe gehen und darüber philosophieren, woran man als Mensch Maß nimmt und was einem wichtig ist, wenn man mit anderen zu tun hat. Und besonders spannend wird es, wenn man direkt mit diesen anderen darüber spricht.

Von Gott geliebt und angenommen

Gerade habe ich in meinen Sonntagsgedanken vom „Maßstab Mensch“ erzählt. Das ist ein klassischer Zollstock, der einfach so heißt. Auf ihm sind neben den Zahlen aber auch Zitate, Namen und Schlagworte abgedruckt; aus der Geschichte der Philosophie und Medizin, aus der Bibel oder von wichtigen Personen. Da ist zum Beispiel „Gandhi“ zu lesen und was man mit ihm verbindet: „gewaltloser Widerstand“. Auch Franz von Assisi und Luther, Galilei und Napoleon. Menschen also, die die Welt geprägt und Geschichte geschrieben haben, weil sie etwas Besonderes geleistet, etwas entdeckt, sich sonst wie hervorgetan und Maßstäbe gesetzt haben.

Wer sich mit diesem Maßstab misst, bei dem könnte schnell Frust aufkommen. Irgendwie vergleicht man sich doch mit diesen Persönlichkeiten und das schüchtert ein. Gut, dass da auch Zitate aus der Bibel auf dem Holz stehen. Ich finde nämlich, die bewirken grad das Gegenteil: sie machen Mut. Da heißt es zum Beispiel: „Du, Gott, umschließt mich von allen Seiten und legst deine Hand auf mich“ (Ps 139). Und weiter, dass Gott jeden einzelnen Menschen kennt, noch bevor er geboren ist. Dass er ihn segnet und bei ihm ist. Das heißt doch, dass ich als Mensch zunächst einmal sein darf, wie ich bin. Denn ich bin von Gott gewollt und geliebt, auserwählt und gesegnet. So wie ich bin. Ich habe eine Würde allein dadurch, dass ich bin. Ich muss nicht gleich so großartig sein wie die großen Leuchten der Menschheitsgeschichte. Ich darf wachsen, größer werden und reifen; an den Umständen, die mir das Leben beschert, und an den Personen, die mir begegnen.

Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat das mal auf seine ganz eigene Art ausgedrückt. Er hat gesagt. „Ich werde am Du“. Auch der Satz steht auf dem Zollstock. Ich wachse an meinem Gegenüber, dadurch, dass ich mich ständig mit ihm und mit der Welt, die mich umgibt, auseinandersetze. Ich darf also werden, mich entwickeln, wachsen. Und wenn ich damit beginne, den anderen so zu respektieren wie er ist, wenn ich auf ihn Rücksicht nehme, weil er vielleicht mit meinem Tempo nicht mithalten kann oder weil er meine Hilfe braucht, dann ist ein Anfang gemacht. Ob ich mich dann mit ihm solidarisiere, ihm helfe und am Ende vielleicht sogar ein kleiner Franz von Assisi oder ein kleiner Gandhi werde, das kann sich ja dann immer noch zeigen.

Ich nutze den „Maßstab Mensch“ gerne, um Leute ins Gespräch zu bringen. Ich lasse ihn dazu manchmal aufklappen und zu einem Kreuz formen. Das Kreuz erinnert nämlich an Jesus, der den Menschen auf Augenhöhe begegnet ist, weil sie ihm etwas bedeutet haben – so wie sie sind. Für Gott ist jeder Mensch wichtig, auch wenn er nicht perfekt ist. Daran möchte ich gemessen werden und daran kann auch ich Maß nehmen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26602
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