Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Manchmal schüttelt es mich, wenn ich merke wie alt ich bin. Und es ist nicht bloß die äußere Zahl, 62. Ich merk das Alter. Es zwickt, Knochen tun weh. Die Augen lassen nach. Und es ist nicht nur der Körper. Auch der Geist: Manches trau ich mir nicht mehr zu. Und manchmal fühl ich mich müde. Wenn man es ehrlich auf den Punkt bringt: „Der Lack ist ab.“

Schlimm? Vielleicht sogar im Gegenteil. Wenn man sich das erst mal ins Gesicht sagen kann, macht einen das vielleicht freier. Und gibt neue Möglichkeiten. Das legt mir ein Spruch nah, den ich auf einem Plakat gelesen hab. Da wird nicht gejammert, dass der Lack ab ist. Im Gegenteil: „Der Lack ist ab, aber der Glanz ist da.“ Das könnte ein Lebensmotto sein für Leute jenseits der 50 oder 60. Und helfen, dass ich das Älterwerdens annehmen kann.

‚Der Lack ist ab.‘ Es ist so, manches, was wir an uns einmal sehr gemocht haben, was uns schön gemacht hat. Manches ist einfach weg und kommt auch nicht mehr. Es hat keinen Sinn, ihm hinterher zu kämpfen. Ich denke an eine Freundin. Die sieht fast nichts mehr auf einem Auge. Man könnte medizinisch noch was versuchen. Erfolgsaussichten sehr zweifelhaft. Sie hat beschlossen. Ich will nicht so viel Lebensenergie in einen vielleicht verzweifelten Kampf investieren. Ich will nach vorn schauen.

An dieser Stelle loslassen und dafür umso mehr sehen, was ich noch kann. Sie verkörpert für mich dieses Motto: „Der Lack ist ab, aber der Glanz ist da.“ Das kann heißen, ‚noch‘ da, oder ‚wieder‘ da. Oder vielleicht sogar. Ich entdecke überhaupt jetzt erst Seiten in mir, die glänzen können. In einem alten Lied gibt es eine  Zeile. Mit der konnte ich früher wenig anfangen: „Es glänzet der Christen inwendiges Leben.“

Das ist ein Versprechen: Die Strahlkraft eines Menschen hängt nicht am schönen Außen, wir können von innen glänzen. Ich denke zB. an Heiner Geißler, der vor kurzem gestorben ist. Äußerlichen Lack, ich glaube, den hatte er schon lange nicht mehr nötig. Aber was aus ihm geglänzt hat, war das Feuer für Gerechtigkeit. Je tiefer seine Falten und je gebückter sein Gang geworden sind, umso mutiger sein Geist.

Oder ich denke an Christiane Hörbiger, die Schauspielerin. Sie ist sichtbar alt geworden. Aber strahlt eine Würde aus. In ihren Falten glänzt so viel Leben, mehr als ihre makellose Schönheit mir früher gezeigt hat. Wie kann man so glänzen? Vielleicht wenn man sich nicht mehr selbst beweisen will. Sondern wenn man einfach lebt. Und Liebe aus einem glänzt. Oder Gott.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25200
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