SWR4 Abendgedanken

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In einem Zeitungsartikel übers Alt-Werden habe ich einen Begriff gelesen, den ich bisher nicht kannte. Er heißt Kristalline Intelligenz. Was ist damit gemeint? Unter kristalliner Intelligenz versteht man die Fähigkeit, was man gelernt hat, was sich wie ein wertvoller Kristall in einem gebildet hat, an der richtigen Stelle einzusetzen. Die braucht man zum Beispiel, um sich angemessen mit Worten auszudrücken, oder wenn es darum geht, zwischen unterschiedlichen Personen in einer Sache zu vermitteln. Kristalline Intelligenz beruht auf Übung und den Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens gesammelt hat. Insofern ist sie eine Gabe des Alters. Mit sechzig Jahren ist sie so ausgeprägt wie nie.

Ich finde, das ist eine beruhigende Nachricht, nicht nur für mich, der so langsam auf dieses Alter zusteuert. Altwerden genießt bei uns meistens keinen so guten Ruf, weil das Alter hauptsächlich damit verbunden wird, dass man etwas nicht mehr kann, zumindest nicht mehr so wie früher. Und das stimmt ja in etlichen Bereichen auch. Es fällt mir zunehmend schwer, mich beim Autofahren im dichten Verkehr auf die vielen Ereignisse gleichzeitig gut zu konzentrieren. Ich muss aufpassen, dass ich mit meiner Gleitsichtbrille zurecht komme. Es gelingt mir nicht mehr so wie früher, mir Dinge zu merken. Aber auf der anderen Seite fällt mir eben auch auf, dass ich über einen großen Erfahrungsschatz verfügen kann. Der hilft mir meistens, die Ruhe zu bewahren, weil ich kaum Situationen ausgesetzt bin, die ich nicht bereits kenne. Auch mich selbst kenne ich besser als noch vor zwanzig Jahren. Ich weiß, wie ich reagiere, was mich ärgert, was mich leichtsinnig sein lässt. Und wenn ich sie dann brauche, meine Erfahrung, kann ich sie schnell und sicher abrufen. Das macht mir das Leben wirklich leichter. Im Beruf, im Umgang mit Menschen, mit mir selbst.

Es ist also ein Irrtum anzunehmen, dass der Mensch im Alter bloß tüddeliger wird. Ja, es stimmt: Unser Gehirn baut mit den Jahren ab, das beginnt etwa mit 25. Deshalb fällt es uns schwerer, etwas zu lernen; Konzentration und Reaktionsvermögen werden geringer. Aber eine gute Ausrede, um sich gehen zu lassen, ist das nicht. Weil das Gehirn eben bis ins hohe Alter trainiert werden kann. Weil der Geist sich schärft. Wer einmal die Vorteile kennen gelernt hat, der entdeckt hoffentlich auch das Schöne, das das Altern mit sich bringt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25180
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