SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Auf vielen Bildern von der Auferstehung Jesu ist es zu sehen: Jesus kommt zu seinen Freunden und er zeigt ihnen seine Wunden. Er lässt sogar zu, dass sie seine Wunden anfassen. Das ist eigentlich seltsam. Wenn ich eine offene Wunde habe, würde ich sie niemals anfassen und schon gar nicht andere reinfassen lassen. Sondern Pflaster drauf und gut wird’s.

Dass Jesus so anders mit seinen Wunden umgeht, bringt mich ins Nachdenken. Nach seiner Auferstehung kommt er zu seinen Freunden nicht mit Vorwürfen wie „Ihr habt mich im Stich gelassen“. Nein, er zeigt ihnen seine Wunden und lässt sogar zu, dass sie sie berühren. Ich finde das stark. Weil es seine Souveränität zeigt. Er hat das Tödliche nicht überwunden, indem er den Tod und die Schmerzen abgeschafft hat. Er weist gerade auf seine Wunden hin und zeigt, dass darin ein Potential steckt: Das Leben ist stärker als Tod und Schmerzen.

Ich kenne das von seelischen Verwundungen. Wenn mich jemand verletzt, weil er etwas gesagt hat, was mich trifft und niederschlägt. Da möchte ich erst mal dichtmachen. Ich versuche dann nicht zu zeigen, wie es mir geht. Vielleicht weil es noch mehr schmerzen würde und weil ich Zeit brauche, um damit fertig zu werden.

Erst später merke ich, dass das Potential gerade in diesen Wunden steckt. Es geht dann gar nicht mehr darum, dass etwas wieder so gut wird, wie vorher. Wenn ich meinen Freunden nicht zeige, wie es mir wirklich geht, sehen sie nur eine Fassade von mir. Aber nicht mich. Und ich bin sicher, sie merken das und halten sich auch mir gegenüber bedeckt. Sie zeigen dann auch nur das, was ich sehen soll. Aber das ist nicht die Wirklichkeit, das Leben.

Zum echten Leben gehören meine Schwachstellen, meine Wunden. Und wenn die anderen sie anschauen und ich mich berühren lasse, dann merke ich, dass ich ihnen etwas bedeute.

Ich habe es noch nie erlebt, dass ich abgewiesen worden bin, wenn ich darüber gesprochen habe, was mich quält. Selbst wenn meine Freunde mich verletzt haben. Im Gegenteil. Wenn ich es wie Jesus mache und meine Wunden zeige ohne Vorwürfe, lässt das meine Freunde nicht kalt. Und selbst wenn es am Anfang wehtut, diese Augenblicke sind ein Stück mehr Leben.

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