SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Einmal am Tag solle man das Vaterunser beten, mit äußerster Aufmerksamkeit und tiefster Sammlung, dann sei alles in Ordnung. So rät die erfahrene Mystikerin und Philosophin Simone Weil. Und das durchaus auch mitten im ganz normalen Chaos des Alltags, nicht nur in besonderen Atempausen und Oasenzeiten.  So  nahrhaft  sei das Hineinschmecken  in dieses Gebet Jesu. Das Entscheidende dabei, so lehrt die erfahrene Frau: Immer dann, wenn wir uns beim Hineinhören in die Gebetsworte Jesu abgelenkt fühlen, sollen wir abbrechen und neu anfangen, bis wir einmal durch sind.   Schon die Anrede „Vater“ hat es ja in sich, und wie oft bin ich schon da nicht mehr ganz bei der Sache. Also üben üben üben – wie beim Schreibenlernen oder Klavierspielen:  achtsam, detailgenau und mit Hingabe. Die Menge der Worte machts nicht, aber die Treue, mit der wir dabei bleiben. Der Mystiker Nikolaus von der Flüe brauchte  ganze vier  Tage, um mit einem einzigen Vaterunser durchzukommen – so kostbar war ihm jedes einzelne Wort.

In seiner unnachahmlichen Art hat  Martin Luther dasselbe  von sich  gesagt, und er war ein treuer Beter:  „Ich sauge noch heutigen Tages am Vaterunser wie ein Kind, ich trinke und esse davon wie ein alter Mensch und kann sein nicht satt werden.“  Auch er findet hier das Grundnahrungsmittel des Christenmenschen; im Vaterunser ist alles gesagt, wenn wir nur treu genug darauf herumkauen und die wenigen Worte einspeicheln mit unserem Leben. Es ist wie Schwarzbrot, das beim  Kauen immer süsser wird und nahrhafter.

 

Schon die Anrede hat es in sich: Abba, Vater. Mit diesem einen Wort auf der Zunge, im Herzen und im Kopf schaue ich anders in die Welt, in mein Leben, in den heutigen Tag. Wem vertraue ich, worauf verlasse ich mich, wohin mit meinen Bedürfnissen, was trägt und orientiert mich? Was ist die Musik meines Lebens? Letztlich nichts als Güte, nichts als Vertrauen – so antwortet das Vaterunser.

Und dann  die erste Bitte: „Vater, dein Reich komme“. Auch da kommt der Geschmack erst beim Kauen. Zudem  wir Deutsche den Begriff „Reich“ nicht gut hören können, seit dem sog.dritten Reich der Nazis. Also übersetzen wir besser: „ Vater, es komme deine Weltherrschaft“. Zu unterstreichen ist: deine, nicht unsere. Die Betenden schreien  angesichts des Unrechts in der Welt, dass der bessere Zustand, der wahre, endlich sich durchsetzen möge:  wo Gott das Sagen hat,  verändert sich alles zum Guten. (Was das heißt, haben die Leute im Umgang mit Jesus erfahren. Die Vaterunser-Bitte  verspricht eine Alternative zum Bestehenden, sie spricht von einer Kontrastfolie zu den vorherrschenden Verhältnissen. Sie sich zu Herzen zu nehmen, schärft den Blick für das, was  der Veränderung bedarf.)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24641
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