SWR2 Wort zum Tag
SWR2 Wort zum Tag
Früher war es üblich, den Tag mit einem Morgengebet zu beginnen. Gewiss tun dies auch heute noch viele. Aber nicht wenige haben grundsätzliche Schwierigkeiten mit dem Beten und lassen es ganz. Besinnlichkeit ja, auch Meditieren, – aber Beten?
Schon Paulus schrieb der Gemeinde von Rom: „Wir wissen nicht, wie oder was wir beten sollen“. Nach dem Matthäus-Evangelium sind es die Jünger selbst, die Jesus bitten: „Lehre uns beten“. Das Beten will also gelernt und geübt sein – wie das Leben und die Liebe. Dazu hat sich im O-Ton-Jesu eine Gebetsanleitung erhalten, die immer noch höchst hilfreich ist und zu denken gibt: das Vater-Unser. Es ist wie ein Formular, in das wir unsere eigenen Lebensdaten eintragen können, Geschichten von gestern und heute. Die zweimal drei Bitten des Vater-Unsers sind so etwas wie Haltepunkte, um die herum unser Leben spielt. Alle stehen unter einer höchst erstaunlichen Anrede: Vater. Das war den Christen von Anfang an so kostbar, dass sie es in der Muttersprache Jesu überliefert haben: Abba, Papa, Väterchen. Für Jesus und seine Jüngerschaft ist offenkundig entscheidend: Wer Gott sagt und weiß, was er tut, meint eine wohltuende und verlässliche Wirklichkeit – uns zugewandt nicht nur wie Sonne und Mond, nein: wie Vater und Mutter, wie Freund und Freundin.
Natürlich sind die eigenen Erfahrungen mit Vater und Mutter in unseren Zeiten höchst unterschiedlich und gemischt, nicht selten auch gebrochen oder gar nicht mehr vorhanden. Im Rückblick könnte man sagen, Jesus war reichlich naiv. Aber er überträgt ja nicht einfach menschliche Eigenschaften auf irgendeinen Gott. Er selbst hat durch sein Verhalten vielmehr gezeigt, wie Gottvertrauen das Leben verändert. Voller Phantasie und Einfühlungsvermögen ging er auf Mitmenschen zu. Er hat Kranke geheilt und Ausgegrenzte wieder an den runden Tisch gebracht. In der Geschichte vom sogenannten verlorenen Sohn zeigt sich der Vater gerade nicht als Pascha, der andere stramm stehen lässt. Voller Erbarmen steigt er vielmehr von seinem Thron herunter und läuft seinem Sohn entgegen, um mit ihm das Fest des Lebens zu feiern. Etwas davon haben die Menschen damals offenkundig bei Jesus erlebt, und seitdem bei vielen Glaubenden. Gott als Vater anzusprechen oder als Mutter, ist keine naive Projektion. Es beinhaltet einen neuen Lebensstil, mit überschießendem Vertrauen und mit dem Mut, füreinander da zu sein. Die Anrede ist ja bei Licht gesehen verrückt (Nicht ein blindes Schicksal, nicht eine gesichtslose Evolution, nicht ein Moloch oder Diktator steht in der Gottesanrede Jesu, nein: nichts als Güte. Jeder Morgen zeigt die Verlässlichkeit dessen, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse.) Alles steht nun unter einem guten Stern, selbst das Schwere. Wäre da nicht jene schöpferische Liebe, wären wir nicht – deshalb die Anrede: Vater.
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