SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Wo hast du nur deine Augen?! Als Kind und Jugendlicher habe ich diese Frage manchmal zu hören bekommen. Ich bin zum Beispiel über was gestolpert. Eigentlich war es gut zu sehen. Wo hast du nur deine Augen?! Oder ich habe etwas nicht gefunden. Dabei lag es vor meiner Nase! Wo hast du nur deine Augen?! Menschen, die ein bisschen verträumt sind oder in ihren Gedanken gerne ganz woanders, die bekommen solche Fragen zu hören.
Wie ich heute darauf komme? Das liegt an diesem Sonntag. In der Kirche hat der nämlich einen Namen. Auf Latein, der alten Kirchensprache, heißt er: Okuli. Auf Deutsch heißt das einfach: Augen. Ein Augensonntag also.

Die Augen, die Okuli, kommen in einem besonderen Satz aus der Bibel vor, einem Psalmvers. Seit dem Mittelalter ist der an diesem Sonntag im Gottesdienst gesungen worden: Meine Augen sehen stets auf den HERRN (Ps 25,15).
Also, die Ausrede hätte ich früher gerne gehabt! – Wo hast du nur deine Augen?! – Ich habe sie bei Gott! – Na, ich fürchte, die anderen hätten mich bloß ausgelacht …
Aber eigentlich ist es ja gar nicht zum Lachen, sondern etwas ganz Wunderbares. Ein Augensonntag. Ein Sonntag, an dem ich auch einmal etwas anderes sehen darf als das, was sowieso vor Augen ist. Zum Beispiel Hoffnung, wo alle nur ihre Sorgen sehen. Etwas Schönes, Wunderbares, an dem alle vorbeilaufen. Keiner guckt hin, aber ich, ich habe ja meine Augen bei Gott, ich sehe das Wunderbare! Wie schön, wenn das an diesem Sonntag passieren könnte!

Doch würde ich damit besser durchs Leben kommen? Nur mit Wundern? Würde ich nicht ein etwas seltsamer Kauz werden, die Augen in irgendwelchen schönen Märchenwelten? Wo hast du deine Augen! Hier ist das harte Leben. Und das sieht nun einmal so aus, wie es aussieht. Aber wer auf Gott schaut, der macht ja die Augen nicht zu. Der guckt nicht weg.

Der Beter in der Bibel jedenfalls, der hat nicht weggeguckt. Ich bin einsam und elend! hat er gesagt. Von Nöten, Jammer und Sünden hat er gesprochen. Aber eben auch: Meine Augen sehen stets auf den HERRN, denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen. Also: Die Not und das Elend, die sind da. Aber das andere ist ja auch da. Der Psalmbeter sieht, was ihm Kummer und Angst macht. Aber dahinter sieht er Gott. Und er hofft, dass Gott ihn aus diesem Netz herausziehen kann.
Ich glaube: Wenn ich nur das Schlimme sehe, nur das Aussichtslose – da könnte mich jemand zu Recht fragen: Wo hast du nur deine Augen?! Kann ich das üben, Gott hinter meiner Not zu sehen, die Rettung hinter dem Aussichtslosen? Die Hilfe und die Helfer, die es gibt? Die schönen Erfahrungen, auch wenn viel Trauriges geschieht? Kann man es üben, dass die Augen das sehen?

Mir sind ein paar Übungen dazu eingefallen:
Die erste ist ganz einfach. Die kennen Sie alle. Eine ganz berühmte Frage: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Es ist etwas ganz besonders Leckeres in dem Glas. Die Hälfte habe ich schon ausgetrunken. Ist es jetzt noch halb voll, habe ich also noch einigen Genuss vor mir? Oder ist es schon halb leer, ist der Genuss sozusagen schon fast vorbei? Schaue ich auf das zurück, was ich in meinem Leben alles schon hatte, und bin traurig, weil es vorbei ist? Oder schaue ich auf die Chancen und Überraschungen, die mir jeder Tag, jedes Jahr noch bieten könnte?
Daraus ergibt sich schon die zweite Übung. Kann ich mich noch überraschen lassen, verzaubern? Oder winke ich ab: Kenn ich doch alles schon! Manche fürchten sich vor Überraschungen. Und verpassen ganz viel Freude, weil sie sagen: Bloß keine Überraschungen!
Und die dritte Übung: Genau hingucken. Mehrmals hingucken. Alles sehen. Das, was schön ist und gut gelungen, das sieht man manchmal erst auf den zweiten Blick.

Diese drei Übungen sind eigentlich leicht. Die sind zu schaffen. Und wenn ich sie geschafft habe, dann habe ich genug Anlauf genommen für die vierte. Jetzt schaue ich mir an, was mich unzufrieden oder unglücklich macht. Die verpassten Chancen. Das, was ich gerne noch ändern würde, aber jetzt ist es dafür zu spät.
Aber stimmt das wirklich? Jetzt gilt’s: halb leer – oder doch halb voll? Hab ich nur verloren – oder hab ich doch ganz viel in der Hand? Und wenn ich jetzt genau hingucke: gibt es da vielleicht etwas, was mich überrascht? Womit ich gar nicht gerechnet habe? Das war vielleicht schon lange da. Aber erst jetzt, wo ich schon einiges verloren habe – erst jetzt sehe ich es. Gerade weil ich jetzt weniger habe.

Die Geschwister, die untereinander und mit den Eltern zerstritten sind. Bei der Beerdigung des Vaters treffen sie sich. Schauen einander an. Und plötzlich sehen sie, was doch auch gut war. Was sie einmal aneinander hatten. Und versöhnen sich. Versöhnen sich mit der Mutter. Das ist einem Bekannten von mir tatsächlich passiert.
Oder der junge Mann, der sich x-mal vergeblich um eine begehrte Ausbildung bewirbt. Ohne Überzeugung und Hoffnung versucht er es schließlich noch einmal ganz woanders. Und bekommt eine Zusage und findet seine Traumausbildung.

Meine Augen sehen stets auf den HERRN, denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen.
Meine Augen sehen auf Gott. Dann kann ich meine Augen offenhalten für Gottes Hilfe.. Und die Hoffnung wächst.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23842
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