Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Der Dichter Franz Kafka hat gesagt: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ Wenn ich an den modernen Straßenbau denke, passt der Satz überhaupt nicht. Es gibt in Deutschland einen genauen und komplizierten Verkehrswegeplan. Der legt fest, wann und wo eine Straße gebaut wird. Da kann keiner kommen und einfach einen Weg entstehen lassen.

Kafka konnte natürlich keine Ahnung davon haben, wie man heute beim Straßenbau plant. Aber von den Wegen, die das Leben so nimmt, davon hat er etwas verstanden. Weil er selbst mehr als genug Erfahrungen dazu gesammelt und sie anschließend als Schriftsteller in seinen Werken verarbeitet hat. Das fängt mit dem Broterwerb an. Von der Schriftstellerei konnte er nicht leben. Sein Geld hat er als eine Art Rechtsanwaltsgehilfe verdient. Eine Arbeit, die ihm regelrecht verhasst war. Auch in der Liebe ist er nicht recht glücklich geworden. Seine Beziehungen zu Frauen waren kompliziert und zu einer Ehe ist es nie gekommen. Und: Sein jüdischer Glaube hat ihm auch nicht geholfen. Gott hat er eher als Last denn als Hilfe erfahren.

Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. Für Kafka ist das ein typischer Satz. Auf den breiten Straßen des bekannten und „normalen“ Lebens hat er sich nicht wohl gefühlt. Kein Wunder, dass er neue Wege gehen musste. Und wie findet man die? Mit seinem Spruch gibt Kafka den Rat, es einfach auszuprobieren. Nicht zu warten, bis uns einer den roten Teppich ausrollt, sondern den ersten Schritt selbst zu wagen - auch in neue und unbekannte Gegenden hinein.

Ein junger Mann aus meinem Bekanntenkreis war nach seinem Abitur ein Jahr lang in Lateinamerika. Seine Eltern hatten große Sorgen, ob das alles gut geht, allein und in der Fremde. Und er selbst hatte anfangs auch ein mulmiges Gefühl. Jetzt, da er wieder zurück ist, ist er ein anderer Mensch: selbstbewusst und aufgeweckt und manchmal ein bisschen frech - so wie ich es mir schon früher von ihm gewünscht hätte. Der neue Weg, fernab der bekannten und ausgetreten Pfade, hat ihm gut getan.

Die nächsten Schritte folgen von alleine. Kafka weiß, dass man sich im unwegsamen Gelände schwer tut und hin und wieder umkehren muss, weil es nicht weiter geht. Das gehört dazu, wenn man seinen Weg finden will. Seinen ganz persönlichen, den kein anderer so gehen kann.

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