Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; Gott aber sieht das Herz an“, sagt die Bibel (1.Sam 16,7).

Mein Herz hat Gott schon oft angesehen. Manchmal spüre ich das, wenn ich allein unterwegs bin, draußen, in der Natur. Oder wenn ich bete. Dann fühle ich mich angenommen und verstanden. Und irgendwie wird es mir dann leichter ums Herz, denn Gott brauche ich nichts vorzumachen.

Manchmal sieht Gott uns aber auch ins Herz mit den Augen eines anderen Menschen. Und meine Erfahrung ist: Menschen, deren Leben zu Ende geht, haben diesen besonderen Blick…

Ich denke da an einen Patienten, den ich im Krankenhaus besucht habe. Eigentlich hatte er mit Kirche nichts am Hut. Das sagt er gleich, als ich mich vorstelle. Dennoch bittet er mich, dass ich mich setze. Und dann erzählt er - ohne Umschweife - von der niederschmetternden Diagnose, mit der er ringt. Und welche Folgen das hat, für seine Familie...

Seltsam, wie schnell ein Vertrauen zwischen uns ist - wie aus dem Nichts.   
Irgendwann atmet er tief durch und sagt:
„Naja, so ist das Leben. Alle haben an etwas zu tragen…“
Dann schaut er mich aufmerksam an und meint:
"
Sie auch. Das sehe ich in ihren Augen.“

Das kam überraschend für mich. Und sofort schwimmen mir die Augen. Es war nämlich der Todestag meiner Freundin. Und ich war traurig. Ich schaue ihn an und nicke. Das genügt ihm.

Irgendwie haben wir für einen Augenblick die Rollen getauscht. Er hat das Verborgene gesehen, das kein anderer gesehen hat. Und hat mit mir gefühlt. Und ich durfte für einen Moment sein, wie mir zumute war.

Beim Abschied hält er meine Hand eine Weile fest und drückt sie an sich. Es braucht keine Worte mehr. „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an“, sagt die Bibel. Ja, und manchmal sieht er mit den Augen eines Mitmenschen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23552
weiterlesen...