SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ich habe mich jetzt gut an die frühe Dunkelheit gewöhnt. Anfangs gefällt es mir gar nicht, wenn es nach dem Sommer immer zeitiger dunkel wird. Vorbei die Abende, die ich abends noch im Garten gewerkelt habe, mit dem Rad den Neckar entlang geradelt bin. Jetzt geht’s ins Haus. Ich werde früher müde. Das fühlt sich für mich ganz fremd an. Aber es dauert nicht lange, dann kann ich besser mit der Dunkelheit umgehen. Dann weiß ich auch die dunklen Abende zu schätzen und freue mich an ihren schönen Seiten. Und das ist gut so. Denn die Dunkelheit ist nichts Fremdes, sie gehört wie der helle Tag unmittelbar zum Menschsein. Ohne dieses regelmäßige Wechselspiel zwischen dem Licht und der Dunkelheit wäre unser Leben hier nicht möglich. „Wüst und leer“ – war es auf unserer Erde, so heißt es im 1. Buch der Bibel. Und weiter: „Gott  sprach: Es werde Licht und es ward Licht“. Es zeigt sich aber, dass es nicht überall hell ist, dass über einem Teil der Erde ein Schatten liegt. Dort ist Nacht. Gott hat also nicht nur das Licht geschaffen, sondern auch das Wechselspiel zwischen Helligkeit und Dunkelheit.

Wir sollten auch die Dunkelheit lieben, meint der Dichter Rainer Maria Rilke. Er schreibt in seinem Gedicht „Die Finsternis, aus der ich stamme“: „Ich glaube an Nächte“.
Das mach ich auch, denn wir Menschen brauchen die Nächte. Das ist mir bewusst geworden auf einer Reise nach Westkanada als dort am längsten Tag des Jahres noch kurz vor Mitternacht die Sonne hell auf die schneebedeckten Berggipfel schien. Ich habe regelrecht auf die Dunkelheit gewartet. Ich wollte den ereignisreichen Tag beenden. Die Nacht hat so viele schöne Seiten. Das haben die Menschen schon immer geschätzt, besonders als sie dann gewusst haben, wie Tag und Nacht entstehen und dass nach Zeiten langer Nächte auch wieder lange Tage folgen. Wir brauchen die Nächte, weil sie uns den Schlaf bringen, die Ruhe nach den vielen Unternehmungen und der Unruhe des Tages. Vieles nehme ich erst in der Nacht richtig wahr: Das Licht einer Kerze. Wie schön Mond und Sterne strahlen. Wie schön, wenn sich die Menschen in der Nacht besonders zueinander hingezogen fühlen. Und die Nacht bringt auch neue Gedanken. Gedanken, die am Tage in mir schlummern, im Dunkel und erst am Abend zum Vorschein kommen, wenn ich nicht mehr so viel aufnehmen muss, aufnehmen kann.
Meine Großeltern habe ich, wenn ich sie im Winter besucht habe, oft im dunklen Zimmer sitzend angetroffen. Weil sie da besser nachdenken könnten. Und dabei haben sich schon auch mal traurige, dunkle Gedanken eingestellt. Meine  Großmutter hat dann gesagt: „Die müssen auch sein. Aber ich weiß, morgen wird es wieder hell, auf der Erde  - und bestimmt auch für mich.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23209
weiterlesen...