Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ich sehe was, was du nicht siehst – und das ist blau.

Bis zum Abwinken haben wir das als Kinder gespielt. Zu Hause oder während einer langen Zugreise, um uns die Zeit zu vertreiben. Immer ist es darum gegangen, es möglichst schwierig zu machen - etwas auszuwählen, was der andere nicht so einfach sehen konnte. Der einzige Hinweis auf das gesuchte Ding war seine Farbe. Ich sehe was, was du nicht siehst – und das ist blau – Wer es herausfinden wollte, musste sich wirklich Mühe geben, genau hinschauen, er musste alles Blaue sehen und benennen können, um schließlich das zu finden, was gemeint war.

Wenn ich heute an dieses Spiel denke, glaube ich dass es eine gute Übung war, achtsam zu sein. Kleine Details wahrzunehmen, einen zweiten oder dritten Blick auf etwas zu wagen. Außerdem  höre ich heute das kleine Wörtchen „noch“ mit – „Ich sehe was, was Du noch nicht siehst. Vielleicht weil Du es noch gar nicht sehen kannst, vielleicht weil es nicht offensichtlich ist oder im Verborgenen schlummert. Ich sehe was, was du nicht siehst, und ich möchte, dass du das auch sehen kannst und dir die Mühe machst, genauer hinzuschauen, tiefer zu blicken.

Vielleicht weil damit der Wunsch verbunden ist, etwas miteinander zu teilen oder noch existentieller gedacht: selbst gesehen zu werden. So wie ich bin, mit dem was mich ausmacht. Ich glaube, dass das eine, wenn nicht die Ursehnsucht des Menschen ist. Gesehen werden wollen – nicht aus Eitelkeit sondern aus einem Wunsch nach echter Nähe. Dass jemand mich wahrnimmt – für wahr nimmt, mit dem, was mich ausmacht.

Dazu gehört für mich der Wunsch, dass jemand sich die Mühe macht, tiefer zu schauen und auch das liebevoll anblickt, was ich nicht nach außen zeigen kann oder will.

Für mich ist es sehr tröstlich zu glauben, dass Gott genau das tut, so wie es in dem Kirchenlied heißt: „Herr, dir ist nichts verborgen. Du schaust mein Wesen ganz, Mein gestern, heut und Morgen wird hell in deinem Glanz (GL 428).

Ich glaube, dass er freundlich auf seine Menschen schaut…dass er bis auf den Grund einer jeden Menschenseele schauen kann -  sieht, was ich oft selbst noch nicht sehen kann – und dass er auch die dunklen Seiten  in Licht verwandelt - spätestens am Ende aller Tage.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22975
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