Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Ich bin ganz Ohr“ – bei diesem Satz denke ich an ein Schwarz-weiß -Foto, das seit vielen Jahren auf meinem Schreibtisch steht. Darauf abgebildet ist das Gesicht eines Jungen, der mit geschlossenen Augen eine große Muschel an sein Ohr hält und versonnen lächelt.

„Rémi écoutant la mer“ hat der Fotograf Edouard Boubat das Bild genannt. Remi dem Meer lauschend  -  

Ich mag dieses Foto sehr. Ganz besonders berührt mich eine Sache: dass der kleine Junge so völlig bei dem ist, was er gerade tut: Hören, was die Muschel in seiner Hand ihm erzählt. Und auch wenn es verrückt erscheinen mag und es kein Meer weit und breit zu sehen gibt – er hört es - und sieht es dann womöglich sogar vor seinem inneren Auge. Die Wellen, die kommen und gehen, die Brandung, den Strand. Er ist ganz Ohr und - Weil er so ganz Ohr ist, hört und sieht er me(e)hr, wird das Unsichtbare für ihn hör- und sichtbar.

Ganz-Ohr-Sein-Können halte ich für etwas Wunderbares. Es ist Zuwendung par excellence, es erfordert meine ganze Aufmerksamkeit - Und es ist gar nicht so einfach. Wie oft ertappe ich mich dabei, dass ich, wenn mir jemand etwas von sich erzählt sage: ah ja das kenn ich…. Und schwups bin ich bei mir und meinen Erfahrungen, die ich jetzt auch noch schnell einfließen lassen möchte. Gleichzeitig erlebe ich es umgekehrt  bisweilen als verletzend oder unsensibel, 

wenn mir dasselbe widerfährt...auch wenn ich weiß, dass es ganz menschlich und nicht böse gemeint ist.

Ganz anders ist es, wenn es mir gelingt wirklich ganz Ohr zu sein – So aufmerksam und präsent zuzuhören, dass ich vielleicht sogar erahnen kann, was jemand mir zwischen den Zeilen mitteilen möchte. Erst dann komme ich wirklich mit ihm in Beziehung und werde von ihm beschenkt. Und wie gut tut es andererseits, wenn ich selbst die Erfahrung machen darf, dass ich gehört werde, dass mir jemand zuhört und dabei ganz Ohr ist.

Carl Rogers, ein Psychotherapeut, drückt das einmal so aus: „Da ist doch etwas seltsam Befriedigendes, wenn man jemanden wirklich hört: es ist als vernehme man überirdische Musik, denn jenseits der unmittelbaren Botschaft, wie diese auch lauten möge, ist das Universelle“ (Carl R. Rogers, Der neue Mensch, S.19)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22974
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