SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Jetzt beginnt wieder die Opernsaison. Darauf freue ich mich, weil ich gern in die Oper gehe. Ich genieße es, wenn die Lichter langsam ausgehen und das Spiel beginnt. Manchmal kommt es mir aber auch seltsam vor, denn ich sitze ja da und schaue wie ein Gaffer zu, wie eine schwindsüchtige junge Frau stirbt. Z.B. in „La bohème“: Total verarmt, ihre Lebenspläne sind geplatzt. Oder ich erlebe im „Figaro“ die Beziehungskrise eines Ehepaares mit, bei dem die schönen Zeiten schon ein bisschen zurückliegen. Die Personen auf der Bühne streiten und sterben zu Musik und schon ist es ein Stück Unterhaltung für den Abend. Im Figaro lache über ich den gelackmeierten Ehemann und fühle die Verlustängste seiner Frau mit, in „Bohème“ und der „Traviata“ bin ich niedergeschlagen, weil die Protagonistin stirbt. Obwohl die Ehekrise im Figaro eigentlich nicht zum Lachen ist und das Sterben von Mimi und Violetta nur gespielt wird. Aber ich spüre eben, dass es mir genauso gehen könnte. Wenn die Lebenspläne von Mimi oder Violetta scheitern, dann fühlt sich das deshalb schlimm an, weil ich auch an meine Lebenspläne denke und hoffe, dass bei mir alles gut geht. Und wenn Don José von Carmen verführt wird, dann berührt mich das, weil ich ja auch weiß, wo ich verführbar bin und fürchte, dass ich abstürzen könnte, wenn ich der Verführung nachgebe. Und klar, wenn ich über die Figuren auf der Bühne lache, dann lache ich, weil ich das ja auch kenne, dass ich so in meiner Sichtweise gefangen bin und kein Fettnäpfchen auslasse.

Ich kann in der Oper also im geschützten Raum Gefühle erleben und ausleben, die in meinem Alltag wenig Platz haben. Und die Musik macht dabei zweierlei möglich, zum einen, dass ich diese Gefühle beim Hören erlebe als ob es meine wären. Das, was ich sonst nicht in Worte fassen könnte, ist hier im Raum hörbar und erfasst Dimensionen in meiner Seele, die ich mit Gedanken und Worten nicht erreiche. Und ich habe den Eindruck, dass die anderen, die mit mir im Zuschauerraum sitzen, dasselbe oder etwas Ähnliches fühlen und wiedererkennen. Und das zweite ist, dass die Gefühle, gerade dadurch, dass sie hier musikalisch ausgedrückt werden, zwar intensiv sind, aber so, dass ich sie aushalten kann.

Für mich ist so ein Opernabend deshalb nicht einfach nur ein Zeitvertreib oder Unterhaltung, sondern auch ein Stück Psychohygiene und eine Eröffnung von anderen Dimensionen. Denn ich komme dabei dem auf die Spur, was in meiner Seele an Konflikten, Sehnsüchten und Bedürfnissen schlummert. Und ich ahne, dass im Grund der Seele eine Dimension ist, die Halt gibt. Und das zu wissen, hilft mir auch im Alltag. Weil ich mich besser kenne und weil ich vielleicht ein bisschen verstehe, was andere brauchen und wie sie fühlen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22769
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