Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Ein Besuch im Alten- und Pflegeheim ist nicht unbedingt erheiternd. Das erlebe ich immer wieder, seit ich dort regelmäßig Besuche mache. Menschen am Ende ihres Lebensweges, oft nur noch Schatten ihrer selbst, sehe ich dort. Besonders berührt mich das Schicksal eines alten Herrn. Körperlich ist er noch recht rüstig, geistig allerdings ist nichts mehr übrig – Demenz. Man kann ihn und sein Verhalten überhaupt nicht mehr ernst nehmen. Das Schlimme für mich: ich kenne ihn von früher. Ein kluger Mann.  Und jetzt? Nichts mehr übrig davon. Die Pflegerinnen und Pfleger begegnen ihm mit professioneller Geduld. Sie kennen zwar seinen Hintergrund, haben ihn selbst aber nie als gesunden Menschen erlebt. Was er noch gut kann ist Singen. Und das tut er ausgiebig – und laut. Ich weiß, dass Menschen mit Demenz oft gerade durch Singen noch irgendwie erreichbar sind, dass es eine der Fähigkeiten ist, die erhalten bleiben. Und ich frage mich, ob nicht tief im Innern dieses  Menschen irgendwo der Gedanke steckt: Ich habe einmal so viel gekonnt, habe gearbeitet, geforscht, habe geholfen und geheilt. Davon ist nichts mehr übrig. Aber eines kann ich noch und das kann ich weiter geben. Ich kann singen.

Ich habe mal was über den französischen Maler  Auguste Renoir gelesen. Der litt im Alter an Gicht. Man musste ihm den Pinsel an die Hand binden und er malte unter großen Schmerzen. Sein Freund Henri Matisse soll ihn gefragt haben, warum er sich so quäle. Die Antwort: „Die Schmerzen vergehen, aber die Schönheit dessen, was ich schaffe, bleibt.“ Ich finde, das ist eine ganz wichtige Aussage. Die gilt nämlich nicht nur für Bilder. Die gilt für das ganze Leben eines Menschen. Auch wenn einer keine herausragenden Werke geschaffen hat oder es nicht zum Professor Doktor geschafft hat. Die Schönheit dessen, was er in seinem Leben geschaffen hat, bleibt. Daran muss ich denken beim Besuch im Altenheim. Und ich denke daran, dass ein Mann, der zu viel und zu laut singt und damit auf die Nerven fällt, eigentlich nur sagen will: ich kann noch was, und das gebe ich gerne an euch weiter.

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