SWR4 Sonntagsgedanken

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Teil I: Wehret den Anfängen

"Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt! Entscheidet euch, ehe es zu spät ist!“ So steht es in einem Flugblatt der Studentengruppe „Die Weiße Rose“.  Mehr als siebzig Jahre ist das jetzt her. Die bekanntesten Mitglieder waren die Geschwister Scholl: Hans und Sophie. Sie wurden von Nazis verraten und ermordet. Weil sie Flugblätter wie diese verteilt haben. Weil sie aus christlicher Motivation heraus die Verbrechen der Nazis angeprangert haben. Und diejenigen, die sie zugelassen haben. Die Mitläufer. Diejenigen, die heimlich zustimmten. Diejenigen, die von nichts gewusst haben wollten. Die Weggucker. Ganz „normale Bürger“ also, damals wie heute. 

Zur Gruppe der „Weißen Rose“ gehörte auch der Katholik Willi Graf aus Saarbrücken, nach dem dort heute eine kirchliche Schule benannt ist. Ich habe vor zwanzig Jahren dort Abitur gemacht. Im Eingangsbereich der Schule hing ein Porträt von Willi Graf. Und die Sätze von ihm: „Jeder Einzelne trägt die ganze Verantwortung. Für uns aber ist es die Pflicht, dem Zweifel zu begegnen und irgendwann eine eindeutige Richtung einzuschlagen.” Verantwortung. Entscheidung. Klare Richtung. Und: „Wehret den Anfängen“.  

Klar war er für uns ein Vorbild. Gegen Nazis waren wir auch. Und „Mut zum Widerstand“ sollte auch unser Leitwort sein. Als pubertierende Schüler fiel das nicht schwer, sich auf diesen Widerstand zu berufen, in allerlei Alltagssituationen, auch fern von politischen Zusammenhängen: Wenn wir uns von den Lehrern schlecht behandelt fühlten – oder in feurigen Artikeln für die Schülerzeitung. Dass der Widerstand von unserem Vorbild Willi Graf aber nicht pubertär, sondern noch viel existenzieller war, dass er – wie die Geschwister Scholl und andere Mitglieder der „Weißen Rose“ - sogar mit seinem Leben für diese Überzeugungen bezahlt hat, das konnten wir damals wohl noch nicht richtig erfassen. 

Und heute? Im Kurznachrichtendienst Twitter hat einer in diesen Tagen geschrieben: „An alle, die in den Neunzigern in der Schule sagten: 'Ich hätte damals nicht mitgemacht': Unsere Zeit ist jetzt!“ - Das gibt mir zu denken. Denn wie sieht es heute aus? Da kneife ich noch viel zu oft. Bei viel Geringerem. Halte den Mund. Auch aus Bequemlichkeit. Schaue weg, wo es doch auf ein mutiges Wort ankäme. Und es geht noch weiter: Wenn heute jede Woche Flüchtlingsheime angegriffen werden; wenn heute wieder von „Überfremdung“ gesprochen wird; wenn Sündenböcke schnell benannt sind; wenn heute stumpfe Parolen scheinbar gesellschaftsfähig werden; wenn das Wort „Widerstand“ als Widerstand gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung mit ihren Regeln pervertiert wird; wenn im Internet der rechte Mob tobt... Wo beginnt denn dann das „Wehret den Anfängen“? Wo, wenn nicht dort?!

Teil II: Fastenzeit - Zeit zum Umkehren

 

Heute geht es in den Sonntagsgedanken um den Satz „Wehret den Anfängen“. Aber wie sieht es heute aus? Man muss nur an die Flüchtlingsfrage denken. Was ist, wenn Brandstifter in Wort und Tat unterwegs sind? Auch im Internet. Das ist voll von menschenverachtenden Parolen, Gerüchten und übler Hetze gegen Menschen, die ohnehin in Not sind. Auch Hetze gegen die, die den Menschen in Not helfen wollen. Nicht umsonst ist „Gutmensch“ zum „Unwort des Jahres“ geworden, weil es diffamiert. Wenn solche Parolen in Talkshows, auf Marktplätzen und in der politischen Debatte immer wieder geäußert werden, mal mehr oder weniger verpackt? Wo beginnt das „Wehret den Anfängen“, wenn der Nachbar, der Arbeitskollege, der Bekannte „sich so seine Gedanken“ macht – und dabei gar nicht bemerkt (oder doch?), wenn er dabei pauschal nachgeplapperte Gerüchte oder Stimmungsmache nach altbekanntem Muster verwendet? Ist da der Anfang nicht schon verpasst? 

 

Die Fastenzeit ist für Christen eine Zeit des Umdenkens. Dann kann es darum gehen, auch mal seine Wortwahl etwas genauer zu überprüfen: Was bedeutet es, wenn ich bestimmt Worte benutze? Und auf welche sollte ich besser verzichten, nicht nur in der Fastenzeit? Wo beteilige ich mich an Tratsch und Klatsch? Oder an Stammtisch-Sprüchen und vorschnellen Urteilen? 

 

Zum Beispiel das Wort „Obergrenzen“. Gerne verwendet für eine „Beschränkung von Flüchtlingszahlen“. Was so technisch-mathematisch daherkommt, meint tatsächlich Menschenleben, Schicksale und jede Menge Leid. „Obergrenzen“, das geht von der vielleicht verständlichen, aber irrigen Annahme aus, man könnte etwas wie auf Knopfdruck begrenzen oder gar „abschalten“. In letzter Konsequenz wird das menschenverachtend und tödlich. 

 

Es gibt viele verräterische Worte, die wir tagtäglich benutzen, ohne das zu Ende zu denken. Ist oft auch kein Problem. Nicht alles gehört auf die Goldwaage. So lange niemand anderer darunter leidet. Aber auch Worte können jemanden fertig machen. Mit Mobbing und Verleumdung etwa. 

 

Papst Franziskus – heute ist übrigens der Jahrestag seiner Wahl - hat einmal gesagt: „Aus Eifersucht tötet man mit der Zunge. Einer neidet dem anderen etwas, und schon fängt das Geschwätz an. Und der Tratsch tötet!“ Obergrenzen für Tratsch: Das wär' doch schon mal ein guter Verzicht für die Fastenzeit!? Auch darum geht es, wenn es heißt: Wehret den Anfängen!

 

Oder – wie es der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer einmal gesagt hat: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“ Unsere Zeit ist jetzt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21562
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