SWR2 Zum Feiertag

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Die Nacht als Raum religiöser Erfahrung

Karoline Rittberger-Klas im Gespräch mit Professor Dr. Hans-Christoph Askani, Genf

Rittberger-Klas: „Inmitten der Nacht, als die Hirten erwacht“, so heißt es im Lied. Weih-Nacht – auch in unserem deutschen Wort steckt sie drin, die Nacht. Das Fest der Geburt Jesu ist ein nächtliches Fest. Warum ist das so? Was hat die „Heilige Nacht“, was der Tag nicht hat? Ich spreche darüber mit Hans-Christoph Askani, Professor für Systematische Theologie an der Universität Genf.
Herr Professor Askani, wann wird für Sie so richtig Weihnachten? Schon am Abend, oder erst am Morgen, oder tatsächlich mitten in der Nacht?

Askani:Ich könnte es mir einfach machen mit der Antwort und sagen: Weihnachten wird‘s für mich, wenn ich am 24. Dezember spät nachts müde ins Bett sinke. Keine Geschenke können mehr gekauft werden, keins der Kinder war enttäuscht, das Essen ist nicht angebrannt, der Weihnachtsbaum auch nicht und der große Trubel ist vorbei. Aber das wäre doch eine allzu billige Antwort, sie würde nur von der Erschöpfung reden, also eigentlich von mir selber. Und Weihnachten redet doch wohl von was anderem als davon, dass wir uns um uns selbst drehen. Nein, Weihnachten wird es für mich dann, wenn ich ins Weihnachtszimmer kommen, wenn die Kerzen brennen, wenn die Geschenke darauf warten geöffnet zu werden und wenn wir das erste Lied singen.

Rittberger-Klas: Das ist dieses Weihnachts-Gefühl – es hängt aber auch damit zusammen, dass es Abend wird, dass die Nacht beginnt, das Fest der Lichter – interessanterweise kreisen ja die beiden großen christlichen Feste um ein nächtliches Geschehen. Nicht nur die Weihnachtsgeschichte spielt in der Nacht. Auch Ostern, das Geheimnis der Auferstehung liegt in der Nacht, die Ostergeschichte beginnt bei Sonnenaufgang. Das ist kein Zufall, oder…?

Askani:Nein, es ist, glaube ich, kein Zufall. Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen der Osternacht und der Weihnacht. Wir wissen eigentlich nicht, was in der Osternacht wirklich passiert ist, wir sind nicht dabei. Erst am Ostermorgen wissen wir oder glauben wir: Christus ist auferstanden. Der ganze Akzent bei Ostern liegt, glaube ich, auf dem Morgen, und die Nacht geht auf den Morgen zu, während es bei der Weihnacht doch anders ist. Weihnachten feiern wir in der Nacht, in dem Gefühl, dass wir dabei sind, bei dem, was da passiert, bei der Geburt Jesu, bei der Geburt des Erlösers. Obwohl wir überhaupt nicht wissen, wann Jesus tatsächlich geboren wurde – Jesus kann auch am Tag geboren sein. Das hängt nach unserem Brauchtum tatsächlich mit der Nacht zusammen…

Rittberger-Klas: Die Nacht ist eine besondere Zeit, sagen Sie – was macht die Nacht besonders? Was hat die Nacht, was der Tag nicht hat?

Askani:Wir heute haben, glaube ich, ein wenig die Sensibilität für die Nacht verloren. Wir sind so sehr geprägt von der Geschäftigkeit, die wir selber inszenieren, der Geschäftigkeit des Tages, dass die Nacht in ihrer Bedeutung immer weniger wahrgenommen wird. Sie ist eigentlich für uns in erster Linie dazu da, dass wir Kraft schöpfen, um am nächsten Tag genauso umtriebig weiter zu machen wie wir am vorigen Tag aufgehört haben. Und dadurch verliert die Nacht natürlich ihr Eigengewicht. Man kann das übrigens auch daran sehen, dass es bei uns ja quasi überhaupt nie mehr dunkel wird. Es gibt, jedenfalls bei uns in Mitteleuropa, kaum mehr Stellen, an denen wir wirklich die Dunkelheit erfahren können…

Rittberger-Klas: Man redet ja inzwischen schon von Lichtverschmutzung…

Askani:Ja, aber ich glaube, die Nacht hat eigentlich einen eigenen Charakter, der darin besteht, dass sie uns unsere Selbstbeherrschung entzieht. Genau das, was wir am Tag so stark ausüben, dass wir die Domierenden sind, das wird uns in der Nacht in gewisser Weise entzogen.

Rittberger-Klas: Hat das auch mit religiöser Erfahrung zu tun, diese Nachterfahrung?

Askani:Ja, ich glaube, dass das eine zutiefst religiöse Erfahrung ist, der Unterschied zwischen Tag und Nacht, dass der Mensch nicht nur der ist, der sich in der Hand hat, der etwas hervorbringt, sondern auch der, dem etwas widerfährt, mit dem etwas geschieht. Und das ist ja auch das Besondere an Weihnachten: An Weihnachten feiern wir in erster Linie, das etwas mit uns geschieht – nicht dass wir etwas tun!

Rittberger-Klas: Es gibt ja viele Menschen, die diese Erfahrung häufig machen, dass sie nachts wachliegen, nicht zur Ruhe kommen, dass die Gedanken kreisen – das hat oft etwas Beängstigendes, man versucht es zu vermeiden, aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, liegt darin auch etwas Besonderes, in gewisser Weise ein Chance oder ein Geschenk, solche Situationen auch zu erleben und auszuhalten.

Askani:Ja, dem würde ich zustimmen. Es ist sehr schwierig, nachts wach zu liegen und viele von uns haben wahrscheinlich die Erfahrung gemacht: Es gibt bestimmte Momente in der Nacht, wenn man da aufwacht, schläft man danach nicht mehr ein. Und dann liegt man da, in einer passiven Position, und all die Probleme, die einem in den Kopf kommen, kann man nicht anpacken, schon weil man einfach nur daliegt. Und man kann sie auch nicht anpacken, weil sie alle zugleich über einen hereinbrechen. Aber wenn man einmal diesen Aspekt der Überforderung zurückstellt, dann würde ich schon sagen, dass diese Erfahrung, dass es etwas Größeres gibt als das, was wir in der Hand haben, dass das eine für das Menschsein sehr wichtige Erfahrung ist, und dass diese Erfahrung auch nicht möglich ist ohne eine Art Schmerz.

Rittberger-Klas: Das faktisch erlebte Weihnachten der meisten Menschen das ist ja oft sehr durchgetaktet, man hat viele Verwandte zu besuchen, man hat viele Dinge zu tun. Denken Sie trotzdem, dass unser Weihnachtsfest auch noch diese Chancen eröffnet und bietet, diese anderen Erfahrungen zu machen, diese Nachterfahrungen, von denen Sie gesprochen haben.

Askani: Vielleicht ist es so, dass wir durch alles, was wir veranstalten, ein wenig dem ausweichen, was eigentlich der Sinn des Festes ist, und doch wieder in die Hand nehmen, was wir gestalten. Ich glaube aber, dass viele Menschen inmitten dieser Anspannung noch eine Intuition davon haben, dass wir an Weihnachten etwas erfahren, was die Weihnachtszeit von anderen Zeiten unterscheidet. Ich glaube, viele Leute benehmen sich an Weihnachten etwas anders als sonst. Mein Vater hat immer erzählt, dass sein Vater, der eigentlich ein sehr sparsamer Mann war, an Weihnachten, wenn er auf den Weihnachtsmarkt ging, hier in Stuttgart, überhaupt nicht mehr auf das Geld geachtet hat, sondern in ganz großzügiger Weise alles mögliche gekauft hat, auch allen Kitsch, so als wären – so hat das mein Vater erlebt, der als kleiner Bub dabei war – als wären die alltäglichen Koordinaten nicht mehr gültig.

Rittberger-Klas: Die alltäglichen Koordinaten sind nicht mehr gültig – das ist ja genau das, was diese Nachterfahrung auch widerspiegelt. Es gilt etwas anderes …

Askani:In der Tat, ich glaube, dass wir Weihnachten weitgehend in der Nacht feiern, hängt auch damit zusammen, dass die Nacht eine Zeit ist, die für das Geheimnisvolle offener ist als der Tag. Am Tag scheint uns alles evident und klar, einteilbar, und in der Nacht ist das nicht mehr so, in der Nacht verschwimmen die Konturen. Und Weihnachten ist ein Geheimnis, vielleicht sogar das Geheimnis schlechthin. Wir können uns vielleicht einmal fragen: Können wir damit einverstanden sein, dass die Welt einfach immer weitergeht und wir einfach immer dazu beitragen, dass sie weitergeht, als gäbe es nichts Neues. Glauben wir nicht doch, dass es einen Neuanfang gibt – für uns in unserem Leben, aber auch für unsere Welt. Und ich glaube: Die Geburt dieses Kindes hat die Bedeutung, dass es einen Neuanfang gibt. Dass Gott mit uns neu anfängt. Und ich glaube, dass es nicht von ungefähr kommt, dass dieses Geheimnis von uns in der Nacht gefeiert wird. Einer Nacht, an der der Morgen danach anders anfängt als alle anderen Morgen.

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