Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Heiliger Sand“ – so nannten die Juden von Worms ihren Friedhof, den ältesten in Europa. Noch heute fasziniert er die Besucher. Mit seinen uralten Grabsteinen, viele schief und halb im Erdreich versunken, erinnert der stille Ort an das jüdische Mittelalter. Damals galt Worms als das „Jerusalem am Rhein“.
Schaut man über die Gräber hinaus, so sieht man den gewaltigen Dom. Diese Ansicht nennen die Wormser auch den „Buber-Blick“. Benannt nach Martin Buber, dem großen jüdischen Religionsphilosophen. Vor seiner Emigration nach Palästina 1938 lebte Buber an der Bergstraße. Immer wieder kam er ins nahe Worms. Sein erster Weg führte zum Dom, dessen Schönheit er bewunderte.  „Dann“, so erzählt er, „gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Ich (...) blicke von diesem Friedhofsgewirr zu der herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf (...) Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist.“ Tief bewegt, hält er fest: „Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht. Der Dom ist wie er ist. Und der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt wurde uns nicht.“

Martin Buber weiß, dass Gott treu ist. Er hat den Bund nicht aufgekündigt, den er mit dem Volk Israel am Sinai geschlossen hat. Es ist eine Tragödie, dass die Christen in ihrer Geschichte genau dies nicht anerkennen wollten. Man glaubte vielmehr, Gott habe das Judentum verworfen. Die Kirche sei das neue, das wahre Israel. Mit dieser Enterbung leistete das Christentum unfreiwillig Vorarbeit für den Völkermord, die Shoa. Heute, 50 Jahre nach Bubers Tod, sehen die meisten Christen in den Juden ihre älteren Brüder und Schwestern. Sie erkennen: Gottes Bund mit Israel besteht weiter. Juden und Christen bilden zusammen ein Gottesvolk. Oder, um es mit Martin Buber zu sagen: „Die Gottestore sind weit offen für alle.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19911
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