Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Krebs im Endstadium: Das teilte mir vor ein paar Wochen der Hausarzt meines Bruders mit. Als ich ihn kurz darauf besuchte, in einer Palliativstation, lag er fast locker auf dem Bett und war ganz Gastgeber: Keine Panik, keine Verzweiflung, dafür aber Freude über den Besuch und Interesse an dem, was es bei uns an Neuem gibt.

Zehn Tage später konnte ich eine ähnliche Erfahrung machen. Mein Bruder sagte: „Mir ist, als könnte ich Bäume ausreißen.“ Ich weiß: Dieses Gefühl war den Medikamenten zu verdanken. Es sollte uns aber eines der intensivsten Gespräche bescheren, das wir je geführt hatten. Sein Kern: Dankbarkeit und Zufriedenheit. Mein Bruder war dankbar für die vielen Freunde, die in diesen Tagen zu Besuch ins Krankenhaus kamen, darunter mehrere Male seine Ex-Frau; er sagte: „Guck, ich habe meinen Frieden mit ihr.“ Er war dankbar auch für seinen wunderbaren Sohn, seine liebenswerte künftige Schwiegertochter, und schließlich dafür, dass er auch auf die schwierigen Situationen seines Lebens zufrieden zurückblicken kann. Er sagte: Da gibt es keine Reste mehr, nichts, was noch zu klären ist; er ist versöhnt damit.

Das Gespräch geht mir bis heute nach; mein Bruder ist inzwischen gestorben. Was mich daran vor allem bewegt, ist, dass er so zufrieden auf sein nicht ganz einfaches Leben zurückblicken konnte. Für mich und auch für viele in unserer Familie ist das sehr tröstlich. Sagen zu können: Ich habe meinen Frieden damit, heißt ja: Ich kann damit abschließen, ich kann es loslassen. Ganz bewusst hat mein Bruder das getan. Für die Trauerfeier – mein Bruder hat mich bei dem Gespräch gebeten, sie zu gestalten – habe ich passend dazu ein paar Verse aus dem alttestamentlichen Buch der Weisheit gefunden. Sie sprechen von der Erfüllung des Lebens, die nicht abhängig ist von der Zahl seiner Jahre: „Früh vollendet, hat der Gerechte doch ein volles Leben gehabt…“ (Weish 4,13).

Einmal mehr wird mir bewusst, wie wichtig es ist, das, was sich in meinem Leben ereignet, intensiv zu durchleben, es also zu reflektieren und Problemen nicht auszuweichen, weder aus Bequemlichkeit noch aus Angst vor den Konsequenzen. Dem Wunsch, auf diese Weise Erfüllung zu finden, komme ich dadurch näher. Ich bin dankbar, dass mein Bruder mir das gezeigt hat.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19655
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